2. Juni 2022

Erzieher werden mit Kopf, Herz und Hand

Von nst5

Erzieherin oder Erzieher ist ein Beruf,

der mit jeder Faser des Daseins ausgeübt wird – und deshalb auch auf allen Ebenen erlernt werden muss.

„Kleine Menschen brauchen so große Herzen wie deins!“
Vor 15 Jahren, am 1. April 2007, begann meine pädagogische Laufbahn als Erzieher in einer Wohngruppe. Tagsüber arbeitete ich als pädagogische Aushilfe in der Gruppe, und abends oder am Wochenende lernte ich für die Prüfungen, die mich zwei Jahre später zum staatlich anerkannten Abschluss führen sollten. Es war eine mühsame Zeit, die ich nur meistern konnte, weil mir das Ziel, Erzieher zu werden, klar vor Augen stand, und weil es gute Freundinnen und Freunde gab, die mich angespornt und zum Durchhalten motiviert haben.
Die theoretischen Grundlagen des Erzieherberufs habe ich damals aus den Büchern gelernt, aber die praktischen Fertigkeiten eignete ich mir durch die tägliche Arbeit mit den Kindern an. Wie fortschrittlich dieses selbst gebastelte Ausbildungsmodell offensichtlich war, konnte ich nicht ahnen. Im Jahr 2012, nur drei Jahre nach meinem eigenen Berufsabschluss, wurden die ersten dualen Bildungsgänge an Fachschulen in Baden-Württemberg eingeführt. Ihr Grundanliegen: In der Ausbildung sollte mehr Platz für erste Berufserfahrungen sein. Die Vorbehalte waren zunächst groß. Schnell zeigten die Erfahrungen jedoch, dass die so Ausgebildeten in der Praxis besser zurechtkamen als diejenigen, die erst nach zwei Jahren Berufsschule in die Arbeit starten durften. Mittlerweile hat die praxisintegrierte Ausbildung (PiA) ihren festen Platz, und insbesondere für ältere berufserfahrene Quereinsteiger ist dieser Ausbildungsweg eindeutig besser.
Im vergangenen Jahr hat eine Initiative aus Vertretern deutscher Städte und Gemeinden, der kommunalen Arbeitgeber und Gewerkschaften eine umfassende Reform der Erzieherinnen- und Erzieherausbildung gefordert. In ihrem Papier gehen die Verfasser für das Jahr 2025 von bis zu 191.000 fehlenden Erzieherinnen und Erziehern aus. Um das Problem zu lösen, schlagen sie unter anderem die flächendeckende Einführung der dualen Ausbildung vor, weisen aber auch darauf hin, dass die Attraktivität des Erzieherberufs durch angemessenere Vergütung sowie durch erweiterte Aufstiegs- und Fortbildungsmöglichkeiten gesteigert werden müsse.
Ob dem Mangel an Fachkräften damit abgeholfen werden kann, ist meiner Meinung nach fraglich. Und eine zweite, viel entscheidendere Frage schließt sich für mich an: Sind diejenigen, die man auf diesem Weg als Quereinsteiger gewinnt, wirklich geeignet für die Tätigkeit eines Erziehers oder einer Erzieherin? Führt allein die Verzahnung von Theorie und Praxis dazu, dass sich Menschen pädagogisches Geschick für den richtigen Umgang mit Kindern und Jugendlichen erwerben? Oder – wenn diese zentralen Fähigkeiten womöglich gar nicht schulisch zu vermitteln sind, sondern einem irgendwie in den Schoß fallen müssen; wenn lebenserfahrene Mütter oder Väter mehr Wissen und Erziehungskompetenz vorweisen können – wozu braucht man dann überhaupt eine dreijährige Ausbildung für Erzieherinnen und Erzieher?

Ohne Herzensbildung geht es nicht.
Von Albert Schweitzer soll das Zitat stammen: „Man wird kein Auto, wenn man in eine Garage geht.“ Ähnliches ist aus meiner Sicht zu einer Reform der Erzieherausbildung zu sagen, die sich nur auf die äußeren Rahmenbedingungen bezieht. Menschen für den Erzieherberuf zu interessieren, indem man die Ausbildung attraktiver macht und ihnen finanzielle Perspektiven anbietet, die auch für den Hauptverdiener einer Familie realistisch sind, ist ein erster wichtiger Schritt. Die Auszubildenden von Beginn an praktisch arbeiten zu lassen, um möglicherweise falsche Vorstellungen zu korrigieren, ist ebenfalls sinnvoll. Es fehlt aber eine dritte Dimension, die die Ausbildung erst vollständig macht: die Förderung emotionaler Kompetenz, die im allgemeinen Sprachgebrauch auch als Herzensbildung bezeichnet wird.

Illustration: (c) iStock (Alina Ivanova, bearbeitet von elfgenpick)

Wer als Erzieherin oder Erzieher arbeiten will, muss nicht nur pädagogisches Fachwissen und praktisches Knowhow für den Umgang mit Kindern und Jugendlichen mitbringen. Er oder sie muss die Fähigkeit besitzen, mit Menschen in Beziehung zu treten, Bindung aufzubauen und diese auch über konflikthafte Phasen und Krisen hinweg aufrechtzuerhalten. Zeitgemäße Ansätze wie die neue Autorität (Haim Omer) oder bindungsorientierte Pädagogik (Karl-Heinz Brisch) stellen diese Kernkompetenz des Handelns in den Mittelpunkt. Um in solcher Weise pädagogisch arbeiten zu können, braucht es viel Selbstreflektion und den Mut, sich seinen eigenen Bindungs- und Beziehungsthemen zu stellen.
Der Erzieher der Zukunft muss mit sich und mit seinen Erfahrungen der eigenen Kindheit und Jugend vertraut sein. Deshalb ist der zukünftige Ausbildungsweg als trialer, von drei Aspekten gekennzeichneter Weg zu denken: Neben fachlichen Kenntnissen, die über die gesamte Berufszeit hinweg erweitert und vertieft werden, neben intensiver Vernetzung und regelmäßigem Austausch mit anderen Praktikern wird die Frage nach der eigenen Lebensgeschichte in Selbsterfahrung und therapeutischer Aufarbeitung dabei eine immer größere Rolle spielen.
Als Leiter einer kleinen Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung erlebe ich es als Herausforderung, Erzieherinnen und Erzieher zu finden, die neben den notwendigen fachlichen Voraussetzungen auch den Wunsch und die Fähigkeit mitbringen, wirklich mit Kindern und Jugendlichen in Beziehung zu treten. Ich sehe viele ältere Kolleginnen und Kollegen, die nach langen Berufsjahren müde wirken – und Berufsanfänger, die eher auf einen stimmigen Ausgleich zwischen Beruf und Privatleben bedacht sind.

Es liegt nicht nur am Gehalt.
Ein Modell, das wir derzeit erproben, ist die Ausbildung und intensive Begleitung von berufserfahrenen Quereinsteigern. Zum Ausbildungsprogramm gehören das individuelle Coaching, das Gespräch in der Gruppe über die Ziele und Motivation für den Erzieherberuf, aber auch Themen wie Selbstfürsorge und Resilienz. Es geht dabei in erster Linie um Herzensbildung, um die Frage nach der eigenen Beziehungsfähigkeit. Dieses Programm absolvieren zurzeit eine Groß- und Außenhandelskauffrau und ein Architekt. Beide haben in ihren vorherigen Berufen deutlich mehr verdient als jetzt. Sie bestätigen aber, dass die Freude an der täglichen Arbeit mit den Kindern und ihre Motivation für diese Tätigkeit sich auf einer ganz anderen Ebene bewegen. Offenbar liegt es nicht immer nur am Gehalt und an den Aufstiegschancen, ob jemand einen sozialen Beruf ergreift – und dann auch in diesem Beruf bleibt.
Erzieherin oder Erzieher ist ein Beruf, der mit jeder Faser des Daseins ausgeübt wird – und deshalb auch auf allen Ebenen erlernt werden muss. Der große Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi hat gesagt: „Nur was den Menschen in der Gemeinkraft der Menschennatur, das heißt als Herz, Geist und Hand ergreift, ist für ihn wirklich, wahrhaft und naturgemäß bildend.“ Eine Erzieherausbildung mit Kopf, Herz und Hand wäre in seinem Sinne gewesen.
Volker Dornheim

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai/Juni 2022)
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