5. Oktober 2022

Mehr Freiräume für Lehrkräfte

Von nst5

Elisabeth von der Heide

Foto: privat

Elisabeth von der Heide arbeitet als Erzieherin in einem Jugendzentrum. Mit ihrem Mann, zwei Grundschulkindern und einem Vorschulkind lebt sie in Friedberg (Bayern).

Als Mutter und als Erzieherin erlebe ich, dass unser Schulsystem leider immer noch auf den Grundregeln Disziplin, Autorität und „still sitzen“ aufbaut. Das wird – nicht nur, aber besonders stark – spürbar beim Übergang vom Kindergarten in die Schule. Auch im vorschulischen Bereich gibt es ja einen „Rahmenplan“, der in den Kindergärten von den Erzieherinnen und Erziehern aber sehr individuell, mit Fantasie und Kreativität umgesetzt werden kann.
In der Schule wird Wissen dann meist nur reproduziert, aber nicht selbst erworben. Große Klassen und eine schlechte personelle und technische Ausstattung prägen sehr häufig den Schulalltag. In diesen einengenden Rahmenbedingungen hängt der jeweilige schulische Erfolg oder Misserfolg direkt von der Motivation und dem Einsatz der Lehrerinnen und Lehrer, aber auch von ihren Sympathien für die Kinder ab.
Solange Kinder den Anforderungen genügen, können sie lernen und wachsen. Aber wenn sie heraus- und auffallen – etwa weil sie andere Begabungen haben – gibt es für Lehrerinnen und Lehrer wenig Möglichkeiten, diese Kinder einzeln zu fördern und zu fordern, wenn sie nicht sehr engagiert sind. Und ich kennen jene, die trotz der äußeren Umstände alles daran setzen, jedem Kind gerecht zu werden und mit großer Kreativität und Flexibilität den Schulalltag meistern. Vor ihnen ziehe ich meinen Hut. Aber ich kenne auch diejenigen, die nur noch vor langer Zeit erstellte Materialien mit möglichst geringem Aufwand herunterspulen.
Gleichzeitig werden immer mehr Aufgaben und Erwartungen von außen an die Schulen und damit auch an die Lehrkräfte herangetragen. Neben der Wissensvermittlung sollen nun auch noch soziale, emotionale und manchmal auch traumatische Defizite aufgefangen und ausgeglichen werden. Ich bin skeptisch, dass dies in der Lehrerausbildung ausreichend berücksichtigt wurde und wird.

Illustration: (c) Stickers (Flaticon)

Im Ergebnis muss ich in meiner Arbeit im Jugendzentrum immer wieder mit Kindern arbeiten, die weder von der Familie noch von der Schule ausreichend unterstützt werden (können). Diese Kinder haben daher fast keine Chance, erfolgreich die Schullaufbahn zu absolvieren. Denn das ganze System setzt voraus, dass Eltern ihren Kindern viel helfen, sie bei den Hausaufgaben unterstützen. Wo das nicht möglich ist – etwa in vielen Flüchtlingsfamilien oder wie während der Corona-Zeit mit Homeoffice und Homeschooling in vielen anderen Familien – scheitern Kinder häufig.
Ich wünsche mir ein Umfeld in den Schulen, dass es den Lehrerinnen und Lehrern ermöglicht, kreativ und nach den eigentlich bekannten Erkenntnissen der Forschung ihrer Aufgabe nachzugehen. Dazu müsste es aus meiner Sicht auch (deutlich) kleinere Klassen geben. Außerdem müsste die pädagogische Unterstützung in Schulen ausgebaut werden. Insbesondere in der Ganztagsbetreuung braucht es Fachkräfte, die im Schulalltag unterstützen. Dann könnte es auch mehr Zeiten für den eigenständigen Erwerb von Wissen geben; dabei kommt Lehrerinnen und Lehrern die wichtige Aufgabe der Begleitung und Unterstützung zu. So könnten Kinder bestmöglich gefördert werden und sich ganzheitlich in allen Aspekten entwickeln.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, September/Oktober 2022)
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