5. Oktober 2022

Damit Schule Freude macht

Von nst5

Was liegt am Schulsystem im Argen?

Und wie könnte eine Schule aussehen, in die Lehrer und Schüler gern gehen? Im Gespräch mit Margret Rasfeld, Mitbegründerin der Initiative „Schule im Aufbruch“.

Frau Rasfeld, warum werden junge Leute Lehrerin oder Lehrer?
Es heißt oft, sie seien ängstlich und wollten verbeamtet werden, um eine gesicherte Zukunft zu haben. Ich glaube aber, viele wollen junge Menschen begleiten! Deshalb sollten wir Schule so organisieren, dass sie diese Möglichkeit tatsächlich haben und nicht bloß als Vermittler von Wissensstoff durch den Schulalltag hetzen.

Was hat sich in diesem Beruf in den letzten Jahrzehnten geändert?
Wie in der Gesellschaft ist alles schneller geworden. Die Autos wurden mehr und die Straßen gefährlicher. Das Fernsehen kam, und die Eltern konnten die Kinder seiner Berieselung überlassen. Die Angst wuchs, dass Kinder auf der Straße angesprochen und mitgenommen werden. Manche Eltern wurden überbehütend, die Kindheit ist kontrolliert – dank Handys stärker als je zuvor. Kinder sollen Bestnoten mitbringen und ein Spitzenabitur hinlegen, um bestmöglich auf das Leben vorbereitet zu sein, am liebsten schon im Kindergarten Chinesisch lernen. Der Druck, den die Eltern sich und den Kindern machen, schlägt sich in einer starken Anspruchshaltung an die Lehrkräfte nieder. Hinzu kommt in Deutschland und Österreich Druck durch das auf Auslese beruhende Schulsystem: ein gutes Zeugnis erreichen müssen, um aufs Gymnasium gehen zu können. Mit der Pisa-Studie, die Schulleistungen international vergleicht, wird Schule auf gleichgeschaltete Standards begrenzt. Und das Bildungssystem ist auf Wirtschaftlichkeit getrimmt worden. Damit ist bei Kindern wie Lehrern viel Freude verloren gegangen.
Außerdem soll Schule die gesellschaftlichen Probleme lösen. Immer wenn ein neues aufpoppt, wird es in die Schule verlagert. Sie soll Gesundheitsvorsorge machen, Mobbing und Gewalt vorbeugen. Aber damit werden nicht die Ursachen angegangen.

Unsere Gesellschaft sieht in Lehrkräften vor allem Wissensvermittler.
Viele Lehrerinnen und Lehrer sehen sich auch selbst so. Sie werden dafür ausgebildet. In der Grundschul-Ausbildung in Österreich ändert sich allmählich etwas, auch in Deutschland, in Richtung mehr Pädagogik, mehr Erziehung. Aber im Lehramtsstudium für Gymnasien geht es nur um Fachwissen; für Beziehungskompetenz wird nichts getan. Dabei ist Schule ja nicht nur ein Lernort. Sie ist ein Beziehungsraum, ein Ort menschlicher Organisation, wo Kinder lernen zusammenzuleben. In der Bildungspolitik und der Ausbildung, auch im Selbstbild der Lehrer, ist das oft ausgeblendet.
Die Lehrer schleppen die Erfahrungen ihrer eigenen Schulzeit mit und wiederholen die alten Muster, die sie erlebt haben. Daher müssten biografische Selbstreflexion und weitere psychologische Kenntnisse zur Ausbildung gehören; beispielsweise mit Gruppen und mit Verhaltensauffälligkeiten umgehen können.

Viele junge Lehrkräfte starten mit großem Enthusiasmus in den Beruf, sind aber schon bald frustriert. Woran liegt das?
Oft werden die Neuen im Kollegium, die etwas ändern wollen, von den Erfahrenen subtil ausgebremst. Nach einem halben Jahr sind sie selbst in der Mühle drin. Häufig sind Lehrer Einzelkämpfer, die sich lieber nicht in die Karten schauen lassen aus Angst, dass jemand ihre Arbeit kontrolliert und kritisiert. Dabei ist eine Supervision in anderen sozialen Berufen an der Tagesordnung. Aber wenn Lehrer eine Supervision haben möchten, müssen sie sie selbst organisieren und bezahlen.

Worunter leiden sie noch?
Schule ist ein Fächer-Korsett. Sie hetzen durch fünf oder sechs Klassen am Tag, mit 25 Schülerinnen und Schülern pro Klasse. Jede und jeden sollen sie individuell fördern. Sie versuchen, ihren Stoff zu vermitteln, aber das ist total anstrengend, denn viele Kinder haben sich innerlich längst abgemeldet. Sie haben Klima- und Zukunftsängste, sind durch Corona psychisch mehr belastet. Vielen geht es wirklich schlecht, aber die Lehrer können es kaum bemerken oder gar darauf eingehen. Für persönliche Nachfragen nach der Stunde ist keine Zeit, denn sie müssen ja schon wieder quer durch das Schulgelände in die nächste Klasse: ungünstig, um Beziehungen aufzubauen! Keine Zeit, den Stoff individuell vorzubereiten, keine Zeit für Vertiefung. Nicht zu reden von den Klassenarbeiten, die zu korrigieren sind. – Ein Hamsterrad, das kaum Möglichkeiten lässt, ihren Horizont zu weiten.
In Deutschland kommt ein nicht zu übersehender Lehrermangel hinzu, der Lehrkräften viel zusätzlichen Einsatz abverlangt. Wenn, dann schaut die Bildungspolitik hauptsächlich auf die Gymnasiallehrer. Grundschullehrer erfahren wenig Aufmerksamkeit. In Dänemark, Finnland, Schweden herrscht eine ganz andere Kultur. Dort ist die Devise: die besten Lehrer zu den Kleinen! Auf die ersten Schuljahre kommt es an!

Was ist denn Ihre Vision von Schule? Was bräuchte es, um die Situation zu verbessern?
Ich möchte Schule so aufstellen, dass die Lehrkräfte nur in wenigen Klassen sind. Sie geben nicht nur Fachunterricht, sondern begleiten Projekte, die die Kinder begeistern und auch ihnen selbst Spaß machen.
Günstig ist ein jahrgangsübergreifendes Lernen: Die Kinder organisieren sich selbst und helfen sich gegenseitig. So haben die Lehrkräfte Zeit, sich um Einzelne zu kümmern. Das erproben wir bei „Schule im Aufbruch“. Montessori-Schulen machen das ja schon seit 150 Jahren. Tests machen weniger Stress, weil sie einfach der Abschluss eines Lernbausteins sind. In einem solchen System haben Kinder mehr Freude am Lernen. Auch die Lehrkräfte sind zufriedener. Allerdings brauchen sie Kompetenzen in Lern-, Projekt- und Prozessbegleitung und für digitale Medien. Die können sie in Fortbildungen erwerben.
Außerschulische Partner sollen das Lernen unterstützen. Sonderschullehrer für Inklusion und einzelne Sozialpädagogen gibt es ja schon. Aber oft kommen sie nur wenige Stunden und sind nicht im Team integriert. Auch Ergotherapeuten, Psychologen, Handwerker und Künstler, die mit Kindern gut umgehen können, sollten fest zur Schule gehören. So würde auch der Lehrermangel geringer.

Welche Lernformate hat eine „Schule im Aufbruch“?
Im „Lernbüro“ lernen Kinder selbstorganisiert Deutsch, Mathe und Englisch. Lehrer sind Lerncoaches, lassen Klassenarbeiten nicht mehr im Gleichschritt schreiben und können eine viel bessere Beziehungskultur pflegen. Ein Tag der Woche mit mindestens vier Stunden ist für den FREI DAY, „Projekt-Lernen“, reserviert. Die Schüler suchen sich ihr Thema aus den 17 Nachhaltigkeitszielen der UNO. Sie eignen sich dazu eigenständig Wissen an und schauen, wie sie es in ihrer Schule oder Kommune umsetzen und für bestehende Probleme Lösungen finden können. Dafür haben sie Zeit, solange sie brauchen; eine Zifferbewertung gibt es nicht. Die erworbenen Metakompetenzen 1 werden reflektiert, gewürdigt und dokumentiert. Ein weiteres Lernformat ist „Verantwortung“, sozusagen der kleine FREI DAY: Jeder Schüler übernimmt eine soziale oder ökologische Aufgabe in der Zivilgesellschaft. Bei „Herausforderungen“ verlassen die Schüler in kleinen Gruppen die Schule für zwei bis drei Wochen und müssen mit 150 Euro auskommen. So lernen sie, mit Unsicherheit umzugehen und werden in ihrer Persönlichkeit gestärkt. Das ist an den beteiligten Schulen das absolute Lieblingsfach!

Lehrkräfte, die ihre Schule verändern möchten: Was können sie tun?
Sie haben gute Voraussetzungen, denn die Politik hat eine Bildungswende ja schon beschlossen. In Deutschland wurde 2017 ein nationaler Aktionsplan Bildung für nachhaltige Entwicklung verabschiedet. Aber 95 Prozent der Schulen haben noch nie davon gehört. Daher werden die Möglichkeiten oft nicht ausgeschöpft. Wer Veränderung will, sollte mit Kollegen darüber sprechen. Nur so können sich Gleichgesinnte finden. Sie können sich über Online-Kongresse der „Pioneers of Education“ oder von „Schule im Aufbruch“ weiterbilden und vernetzen. Sie können Experten in die Schule einladen. „Schule im Aufbruch“ entwickelt ein Modell mit Transformationsbegleitern aus der Wirtschaft, das in Bayern erprobt wird. In Niedersachsen konnte ich am Projekt „Bildung 2040“ mit 65 „Zukunftsschulen“ mitwirken. Rheinland-Pfalz zieht jetzt nach. In Leipzig versuche ich gerade, eine feste Anlaufstelle zu etablieren. Viele Schülerinnen und Schüler treiben die Beziehungslosigkeit und der Druck in der Schule in eine unglaubliche innere Leere und Aussichtlosigkeit. Daher schaffen wir einen Ort, wo Schüler, aber auch Eltern und Lehrer hinkommen, Gesprächspartner finden und sich stärken können.
Wo man aufpassen muss: Resilienz und Achtsamkeit, der Wunsch, Kinder zu stärken, sind groß in Mode. Entsprechende Initiativen werden auch in die Schule geholt. Dass Kinder lernen, mit Stress umzugehen, ist super! Aber damit wird das Problem nicht an der Wurzel gepackt. Der Stress bleibt. Alle Versuche, ein altes System zu optimieren, ändern das System nicht. Das wäre aber dringend nötig! Wir brauchen eine Schule, die in sich stressfreier ist!
Clemens Behr

1 Metakompetenzen sind vollständig selbst erlernte, dauerhafte Fähigkeiten, die den Erwerb anderer, leistungsorientierter Fähigkeiten ermöglichen.

Margret Rasfeld
geboren 1951 in Gladbeck, war als Gymnasiallehrerin für Biologie und Chemie tätig und maßgeblich am Aufbau von zwei Gesamtschulen beteiligt. 2007 bis 2016 leitete sie die Evangelische Schule Berlin Zentrum, Modellschule für eine neue Lernkultur. Rasfeld macht Fortbildungen für Lehrkräfte und Schulleitungen und hat 2012 mit dem Rechtswissenschaftler und Mediator Stephan Breidenbach und dem Neurobiologen Gerald Hüther die Initiative „Schule im Aufbruch“ gegründet. Als Begleiterin von Transformationsprozessen an Schulen ist sie zurzeit in Leipzig engagiert.

www.schule-im-aufbruch.at
schule-im-aufbruch.de

Foto: (c) Simon Wegener

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, September/Oktober 2022)
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