5. Oktober 2022

Ungarn erfahren

Von nst5

Acht Tage reichen nicht, um ein Land

kennenzulernen. Eine NEUE STADT-Reise im Juni hat die Zeit jedoch ausgekostet, um in die ungarische Kultur und Geschichte einzutauchen.

Eine überschaubare, doch vielfältige Gruppe: Im Reisebus sind wir außer dem Fahrer zu 22 Personen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz unterwegs – ein Herr ist gar aus den USA angereist. Die meisten waren noch nie in Ungarn und sind gespannt, was sie erwartet!

Sankt Martin teilt seinen Umhang mit einem Bettler: Darstellung über einem Portal der Benediktinerabtei Pannonhalma. – Alle Fotos: Clemens Behr

Erster Halt: Pannonhalma. Uns empfangen Renáta Mátó, die uns durch ihr Land begleiten wird, und Attila Hernády von Pannon Pilgrim, dem ungarischen Partner des Bayerischen Pilgerbüros, die beide unsere Tour organisiert haben. Vierzig Benediktiner von 25 bis 90 Jahren leben in dem Kloster, das Großfürst Geza I. 996 gestiftet hat. Schon unter István (Stephan) I., Sohn Gezas und erstem König Ungarns, wurde es Erzabtei. Dabei waren die Magyaren erst 896 aus den eurasischen Steppen eingewandert. Geza und István hatten sich taufen lassen und wollten von Pannonhalma aus ihr Volk christianisieren lassen. „Sie hatten verstanden, dass die Magyaren ohne Christentum nicht hätten in Europa Fuß fassen können“, erklärt Renáta Mátó. „Um sein Volk hier stärker einzubinden, hat István Gisela von Bayern zur Königin genommen.“
In Győr übernachten wir in einem ehemaligen Karmeliterkloster. Von hier aus geht es ins „Donauknie“.

Die Basilika in Esztergrom ist die größte Kirche Ungarns. Der klassizistische Dom wurde 1822 bis 1869 errichtet, die erste Kirche an dieser Stelle jedoch schon unter König István. Esztergom, eine der ältesten Städte des Landes, war vom Ende des 10. Jahrhunderts an für 250 Jahre Hauptsitz der ungarischen Herrscher: die Wiege der Nation!
Etwas donauabwärts liegt Burg Visegrád. 1335 vereinbarten hier die Könige von Ungarn, Böhmen und Polen eine enge Zusammenarbeit. In Anlehnung daran beschlossen 1991 die Staatschefs Ungarns, Polens und der Tschechoslowakei, sich mehr zu verbinden und der EU anzuschließen. Daraus entstand die Gruppe der Visegrád-Staaten.

Ein Abstecher nach Szentendre zeigt eine bunte Altstadt. Das verspielte Flair verlieh ihr eine in den 1920er-Jahren gegründete Künstlerkolonie. Eine Blütezeit erlebte die Kleinstadt Ende des 17. Jahrhunderts durch vor den Osmanen geflüchtete serbische Kaufleute und Handwerker.

Budapest, Ungarns Hauptstadt: Wir erleben eine Schifffahrt auf der Donau vorbei am neogotischen, 268 Meter langen Parlament und besteigen den Burgberg mit Burgpalast, Matthiaskirche, Sitz des Staatspräsidenten und Fischerbastei, von der man einen imposanten Blick hat. Die bekannte Kettenbrücke ist zur Renovierung eingerüstet.

Eine Höhle im Gellértberg wurde 1926 bis 1931 zu einer Felsenkirche erweitert. Sie wird von Paulinern, dem einzigen ungarische Männerorden, betreut. 1951 verbot die kommunistische Regierung die Orden, verfolgte die Ordenschristen und betonierte die Felsenkirche zu. Erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurde sie wieder zugänglich gemacht und die Pauliner konnten zurückkehren. Wir spüren die bedrückende Geschichte, als wir in den Höhlen einen Gottesdienst mitfeiern.
Am Abend begegnen wir Mitgliedern der Fokolar-Bewegung und Mitarbeitern der „Új Város“, der ungarischen NEUEN STADT. Wir freuen uns, ihr Leben und ihre Arbeit in familiärer Atmosphäre näher kennenlernen zu dürfen.

Gang durch Győr am Spätnachmittag.

Nicht nur, aber auch im Schloss Gödöllő nordöstlich von Budapest treffen wir auf „kaiserliche und königliche“ Geschichte: Die barocke Anlage war Lieblingsschloss der österreichischen Kaiserin und ungarischen Königin Sisi, Elisabeth. Die Doppelmonarchie bestand von 1867 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Allerdings gab es schon zuvor enge Beziehungen zum Wiener Hof, nachdem die Habsburger 1686 Ungarn erobert hatten. Der ungarische Teil der k. u. k. Monarchie umfasste große Bereiche Kroatiens und Rumäniens, die Vojvodina und kleine Teile Polens und der Ukraine. Dass den Ungarn nach dem Ersten Weltkrieg im Vertrag von Trianon zwei Drittel ihres Territoriums aberkannt wurden, ist eine der Verletzungen, die bis heute nachwirken und leicht populistisch ausgenutzt werden können.
Im denkmalgeschützten Dorf Hollókö sind aus Lehmwänden errichtete und mit Stroh gedeckte Gebäude aus dem 17. und 18. Jahrhunderts erhalten. Es wird von der Volksgruppe der Palóczen bewohnt. Sie führen Trachten, Tänze, traditionelle Arbeitsweisen und Kunsthandwerk vor.

Visegrád: Obere Burg

Gegen Abend spazieren wir durch Eger. Wie viele ungarische Orte ist die Barockstadt nicht von den Osmanen verschont geblieben. Konnte sie 1552 den Angriff der „Türken“ noch abwehren, wurde sie später doch von ihnen besetzt – fast hundert Jahre lang. Unser Hotel hat 14 Meter unter der Erde einen Weinkeller, in dem wir „Erlauer Stierblut“, Tokajer und andere ungarische Weine kosten.
Tags drauf – es bleibt fast die ganze Reise hindurch heiß – geht es Richtung Südosten weiter. In kleinen Booten fahren wir durch das Schilf des Theiß-Sees, ein Biotop, das sich erst in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat. Er wurde 1973 zur Hochwasserregulierung angelegt. Ein Ökozentrum erläutert Umwelt-Zusammenhänge, zeigt Störe und andere Fischarten, Reptilien, Vögel und Landtiere.

Weiter östlich erwartet uns die Puszta, was Leere, Ödnis bedeutet. In Hortobágy wird in einer Csárda, einem rustikalen Gasthaus, Gulaschsuppe serviert. Zwei Herren mit Geige und Zimbel unterhalten die Gäste mit traditioneller Musik der Roma. Anschließend geht es mit Pferdekutschen in die weite, trockene Steppe zu Ziehbrunnen und Zackelschafen mit korkenzieherartigen Hörnern, Büffeln und Graurindern. Csikós, Pferdehirten in traditionellen Gewändern, führen mit Pferden Kunststücke vor. In der Puszta wird das klassische Ungarn-Bild gepflegt, das Touristen erwarten, aber nur ein kleiner Ausschnitt der vielfältigen Kultur des Landes ist.

Kecszkemét hat unter anderem ein prächtiges Jugendstil-Rathaus, eine reformierte Kirche, eine heute nicht mehr als solche genutzte Synagoge. Hier treffen wir Attila Hernády wieder, der uns mit seiner Frau in einem Pfarrsaal mit kühlen Getränken, selbstgemachten Langós und Palatschinken überrascht: Gastfreundschaft, die uns berührt!

In Pécs schauen wir die katholische Kirche St. Maria an, die 1585 als Moschee gebaut wurde und immer noch so aussieht. Nach der Osmanenzeit trug man das Minarett ab und widmete den Bau um. Wir besichtigen den Bischofspalast, die viertürmige Kathedrale und frisch renovierte Grabkammern aus dem 4. Jahrhundert, die zu einem frühchristlichen Friedhof aus spätrömischer Zeit gehören. Pécs ist Zentrum der 100 000 Donauschwaben oder Ungarndeutschen, deren Vorfahren im 17. bis 19. Jahrhundert einwanderten. Zu Abend essen wir hoch oben im Fernsehturm.

Eine Fähre bringt uns über den Balaton, den 79 Kilometer langen Plattensee, zur Halbinsel Tihany samt Benediktinerabtei. Im Kurort Hévíz warten moldauische Tschango-Ungarn mit traditionellen Instrumenten auf uns. Ein Paar in Tracht führt uns in ihre Paar- und Kreistänze ein. Bevor wir am nächsten Vormittag die Heimreise antreten, gehen einige von uns in dem 33 bis 36 Grad warmem See schwimmen, der aus einer Thermalquelle in 38 Metern Tiefe gespeist wird.
Unsere Reisegruppe ist zusammengewachsen. In nur acht Tagen so vieles gesehen, gehört und erlebt, verbinden wir jetzt das Land mit Gesichtern. Ungarn ist uns nahegekommen, und doch: Noch viel mehr bleibt zu entdecken!
Clemens Behr

UNGARN (ungarisch Magyarország) ist mit 93 000 km2 und 9,7 Millionen Einwohnern etwas größer als Österreich. Die Magyaren (Madjaren, Ungarn) machen über 90 Prozent der Bevölkerung aus. Größte ethnische Minderheit sind die Roma. Rund 2,4 Millionen Ungarn leben in der Slowakei, Rumänien, Serbien und der Ukraine. Ungarisch zählt nicht wie die meisten Sprachen in Mitteleuropa zur indogermanischen Sprachfamilie, sondern zum finno-ugrischen Zweig der uralischen Sprachen. Es ist entfernt mit Estnisch und Finnisch verwandt. Ungarn gehört seit 1955 zu den Vereinten Nationen, seit 1999 zur NATO und seit 2004 zur Europäischen Union. Die Hauptstadt Budapest hat 1,7 Millionen Einwohner.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, September/Oktober 2022)
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