4. Oktober 2022

Wahrheiten werden verträglicher

Von nst5

Ironie kann heikle Momente entkrampfen.

Aber längst nicht jeder Mensch versteht sie. Wäre es also besser, auf Ironie zu verzichten? Oder wie kann man sie gut einsetzen?

Simon Deregowski
Musiker & Creative Producer, Köln
Ich denke, dass wir gerade in heiklen Momenten das Hilfsmittel der Ironie unbedingt brauchen. Ich habe das Gefühl, dass wir in diesen Situationen auf eine Form der Ironie zurückgreifen, die – überspitzt formuliert – dem „Galgenhumor“ sehr nahekommt. Und dann ist es für mich sogar schwieriger, wenn Leute mit Ironie gar nichts anfangen können.
Denken wir beispielsweise an Satire, wie sie in der Heute-Show oder auch bei Jan Böhmermann genutzt wird, dann ist diese Art von Humor die Möglichkeit, auf Missstände aufmerksam zu machen. Dabei lassen wir uns aber nicht von unserem Frust und unserer inneren Traurigkeit kontrollieren, sondern bewahren uns innerlich ein verschmitztes Lächeln. Damit meine ich kein Augenzwinkern, kein „Abtun“ der Schwere der Thematik. Nein, wir verlieren nicht den Optimismus, obwohl wir uns der herausfordernden Lage total bewusst sind.
Gut, in unserer aktuellen gesellschaftlichen und politischen Situation brauchen wir dieses Stilmittel wahrscheinlich nicht – läuft ja gerade alles ziemlich super.
Und wer das jetzt liest und denkt: „Hey, das stimmt doch gar nicht!“, ist sich bewusst, wie viele Baustellen es in unserer Gesellschaft aktuell gibt, aber lässt sich davon hoffentlich nicht entmutigen. Ironie ist für mich Ausdruck davon.

Elisabeth Reichel
Psychiaterin, Wien
„Wer das Leben zu ernst nimmt, braucht viel Humor, um es zu überstehen.“ Dieser Satz von Charlie Chaplin bringt die Bedeutung von Ironie auf den Punkt.
Ironie ist ein rhetorisches Stilmittel, es ist „uneigentliches“ Sprechen. Das bedeutet, dass der Sprechende etwas ausdrückt und dabei ganz anderes, vielleicht sogar das Gegenteil meint. Wesentlich ist allerdings, dass der Empfänger erkennt, dass die Äußerung ironisch war; gemeinsames Wissen ist notwendig.
Damit ist Ironie wie ein Spiel – vertraut, zärtlich, sie drückt Nähe aus, sorgt dafür, dass die Kommunikation mit etwas mehr Witz, Originalität und Abwechslung geführt wird. Sie hilft dabei, sich von der Unbill des Lebens abzugrenzen.
Ironie hat ihre Grenzen dort, wo sie, etwa kulturell bedingt, nicht verstanden wird und daher ausgrenzt; dort, wo sie zu einer resignierten Grundstimmung führt, wo sie dazu dient, sich nicht berühren zu lassen, Problemen aus dem Weg zu gehen und sich zurückzuziehen.
Und doch hat Ironie eine identitätsstiftende Funktion, schafft Gemeinschaft, kann zum Nachdenken anregen. Sie hilft Wahrheiten so auszudrücken, dass sie verträglicher werden. Kurzum – sie ist nötig, um das todernste Leben etwas unernster zu machen.

Ulrich Busch
Psychotherapeut, Diez
Wörterbücher definieren Ironie als ein „offenes sich Verstellen“. Was ist gut daran, sich zu verstellen? Wenn ich in einen Dialog trete, um Nähe herzustellen, brauche ich kein Gegenüber, das sich verstellt! Dann wünsche ich mir ein Gegenüber, das sich bemüht, mich zu verstehen und sich mir verständlich zu machen. In einer solchen Situation ist es unbedingt erforderlich, auf Ironie zu verzichten.
Manchmal aber ist Distanz notwendig, um von außen auf etwas zu schauen, um etwas Fremdes zu verstehen oder auch nur ertragen zu können. Um diese Distanz herzustellen, hilft es oft, den Sachverhalt mit Humor zu nehmen. Ironie ist ein Mittel dazu. Gerade Jugendliche nutzen Ironie häufig; sie sagen: „Ja, toll!“, wenn etwas unangenehm ist. Ironie kann helfen, unliebsame Dinge erträglicher zu machen. Ironie ist dann möglich, wenn man vom Gegenüber weiß, dass es sich in einer vergleichbaren Lage befindet; wenn sie sich etwa mit dem gleichen unangenehmen Sachverhalt auseinandersetzen muss und gerade ebenfalls die nötige Distanz aufzubringen versucht. In diesem Fall schafft Ironie sogar so etwas wie Nähe, da man gemeinsam über etwas eigentlich Ärgerliches lachen kann.

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(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, September/Oktober 2022)
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