2. Dezember 2022

Dach für eine große Vielfalt

Von nst5

Bunt, gegensätzlich, komplex, geeint.

So präsentierte sich die Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Karlsruhe.

Wenn man jenen zuhört, die bei der 11. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) in Karlsruhe dabei waren, stimmen sie darin überein: Die Vielfalt, Offenheit und „Buntheit“ haben sie in ihren Bann gezogen. Weiter berichten sie von spontanen Begegnungen beim Essen, in Warteschlangen, auf Parkbänken sitzend, in Pausen. In der „flirrenden Atmosphäre“ kam man ins Gespräch mit afrikanischen Pfarrerinnen in bunten Gewändern und orthodoxen Würdenträgern mit ihren „Ikonen-Kreuzen“. Dieses „Einander-Begegnen-und-Wahrnehmen“ als Christinnen und Christen, die in unterschiedlichen Kontexten leben, war wohl ein prägendes Kennzeichen der Vollversammlung, wo – nach diesen Eindrücken – „die ganze Welt vertreten“ war und so mancher ein wenig staunend feststellte: „Kirche lebt!“
„Was für den ÖRK und die ökumenische Bewegung ganz grundlegend ist, sind die Beziehungen“, bekannte auch die Vorsitzende des ÖRK-Zentralausschusses Agnes Abuom bei der Eröffnung. Und fuhr fort: „Sie erst machen Erfahrungen wie die Vollversammlung so wertvoll und prägend. Wir begegnen einander – in all unserer Einzigartigkeit – und erkennen in fremden Personen unsere Nächsten: Einheit inmitten unserer Vielfalt.“

Foto: (c) Mike DuBose/WCC

Die alle acht Jahre stattfindenden Vollversammlungen des ÖRK sind weltumspannende Ereignisse. Schließlich repräsentiert die 1948 gegründete Organisation derzeit 352 (!) Kirchen aus 120 Ländern und steht damit nach eigenen Angaben weltweit für über 580 Millionen Christinnen und Christen. In Karlsruhe waren vom 31. August bis 8. September etwa 4000 Menschen dabei. Und obwohl die katholische Kirche nur Gaststatus hat, waren auch viele Katholiken da, nicht zuletzt die hochrangige Delegation aus dem Vatikan angeführt von Kurt Koch, dem für Ökumene zuständigen Kardinal.

Foto: (c) Albin Hillert/WCC

Vielfalt und Buntheit prägten auch die mehrmals täglich angesetzten Gebetszeiten. Farben, Bewegungen, Worte, Bilder und Töne aus dem reichen Fundus der globalen christlichen Bewegung. Alte liturgische Gesänge, Hymnen, traditionelle Tänze und moderne Lieder bewegten die Gläubigen. Sie machten dann auch den entscheidenden Unterschied zu einer politischen Tagung aus. Denn viele Themen hätten auch bei anderen internationalen Tagungen auf der Tagesordnung stehen können: Klimawandel, Krieg und Frieden, die Situation indigener Völker, Formen der Ungerechtigkeit, wiedererstarkender Rassismus, Populismus und Militarismus, die neuen Generationen und die Zukunft.
Eine der zentralen Aufgaben einer ÖRK-Vollversammlung ist es, gemeinsame Positionen und konkretes Handeln für die kommenden Jahre abzusprechen. Etwa die Hälfte der Teilnehmenden in Karlsruhe war von ihren Kirchen delegiert, um bei dieser Ausrichtung mitzuwirken. Sie brachten das Leben, die Fragen und auch die Nöte aus ihren Kirchen, Ländern, Kulturen und Weltregionen mit. Verschiedenheit war auch da spürbar, schon allein durch die unterschiedlichen Erfahrungshorizonte.

Foto: (c) Albin Hillert/WCC

Am Ende verabschiedete die Vollversammlung mehrere Papiere. Inwieweit die darin enthaltenen drängenden Appelle gegen den Klimawandel, gegen Aufrüstung und Waffenlieferungen, gegen die Unterdrückung von Indigenen, gegen Rassismus auch außerhalb aufgenommen werden, muss sich weisen. In manchen Passagen bleiben sie – wohl weil sie die vielfältigen Perspektiven und Positionen mit breiter Zustimmung aufnehmen wollten – sehr allgemein. Wahrscheinlich wird vieles davon abhängen, ob und wie die Papiere in den Mitgliedskirchen aufgenommen, umgesetzt und damit wieder nach außen getragen werden.

Foto: (c) Albin Hillert/WCC

Bemerkenswert ist jedoch die Art und Weise der Entscheidungsfindung. Seit seiner 9. Vollversammlung in Porto Alegre, Brasilien (2006) arbeitet der ÖRK mit dem Konsensverfahren. Konkret sah das in Karlsruhe so aus: Von Kommissionen erarbeitete Texte wurden im Plenum vorgestellt. Die Delegierten hatten orangefarbene und blaue Karten. Immer wieder erfragten die Moderatoren die Stimmung im Saal: Wer mitgehen konnte, hob die orange Karte, wer Einwände hatte, die blaue. Danach bekamen gerade sie Gelegenheit, ihren Vorbehalt oder Änderungswünsche zu äußern. Wieder gab es eine „Abstimmung“. Wer auch in mehreren Runden noch nicht mitgehen konnte, erhielt die Gelegenheit, „zur Seite zur treten“. So wurden die Texte nach und nach erarbeitet. Letztlich geht es beim Konsensprinzip darum, dass alle einverstanden sind oder aber bereit, ihre abweichende Meinung oder ihre Bedenken aufzugeben oder zurückzustellen. Sie tragen dann die Entscheidung trotz ihrer Bedenken mit. Die scheidende ÖRK-Vorsitzende Abuom hat das Verfahren zu Recht als „starke(s) Bekenntnis zur Einheit der Kirche und der Einheit der Menschheit“ hervorgehoben und als Ausdruck „unserer Bereitschaft, durch die Kraft des Heiligen Geistes nach einer gemeinsamen Überzeugung zu suchen“.

Foto: (c) Albin Hillert/WCC

So mancher, der als Gast in den Plenarsitzungen dabei war, hat neben der Vielfalt auch die Gegensätzlichkeit erlebt. Und Konfliktpotenziale wahrgenommen. So etwa die „klaffende Wunde in unserer Welt von heute“ wie Generalsekretär Ioan Sauca, den Krieg in der Ukraine bezeichnet hat. Obwohl der ÖRK den Krieg von Anfang an verurteilt hatte, verteidigte Sauca das Nein der Versammlung zu einem Ausschluss der russisch-orthodoxen Kirche wegen ihrer Unterstützung des Kriegs: „Es wäre einfach, auszugrenzen, aus der Gemeinschaft auszuschließen und zu verteufeln, aber wir sind als ÖRK aufgerufen, eine freie und sichere Plattform der Begegnung und des Dialogs bereitzustellen, einander zu begegnen und einander zuzuhören, auch wenn wir einmal nicht einer Meinung sind“, sagte der rumänisch-orthodoxe Theologe. Bis zuletzt war um die Teilnahme der Delegationen aus den Kirchen der Ukraine und Russlands geworben worden. Ihre Positionen blieben auch bei der Diskussion über die Resolution zum Ukraine-Krieg unvereinbar. Wichtiges Signal für eine für alle offene Tür bleiben die Teilnahme und das Ringen aber dennoch.

Foto: (c) Albin Hilltert/WCC

Verabschiedet wurde – nach kontroversen Auseinandersetzungen – auch eine Stellungnahme zum Nahostkonflikt: Der Text formuliert scharfe Kritik an Israel für Vertreibungen und Menschenrechtsverletzungen, erkennt aber auch Israels Recht auf Verteidigung an. Das Papier benennt zudem, dass der ÖRK beim Vorwurf einer „Apartheid-Politik“ gegen Israel uneins war und daher auf den Begriff verzichtet hat: Vor allem die Delegierten der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) verwehrten sich gegen die Rede von „Apartheid“, die Vertreter aus den USA und Südafrika unbedingt in die Resolution aufnehmen wollten.
Komplex ist wohl ein genauso zutreffendes Kennzeichen dieser Vollversammlung. Und ihres Ringens um die Einheit. Dass dafür viele Gespräche, viel Beziehungspflege und Langmut vor, während und nach der Versammlung selbst nötig sind, lässt sich gut erahnen. Ob das Motto „Die Liebe Christi bewegt, versöhnt und eint die Welt“ absichtlich und in weiser Voraussicht gewählt wurde, bleibt dabei nebensächlich. Es hätte jedoch aus Sicht vieler nicht treffender sein können. Ausdruck davon ist ein weiteres Papier: eine durchaus eindrucksvolle spirituelle Selbstvergewisserung in der „Erklärung zur Einheit“, die vor allem auf die Notwendigkeit einer „Ökumene der Herzen“ hinweist.

Foto: (c) Paul Jeffrey/WCC

Haupttreffpunkt in Karlsruhe war eine große Zelthalle: Ihr großes weißes Dach ruhte auf Säulen, die Seiten waren offen und die „ganze bunte Welt“ fand darunter Unterschlupf. Vielleicht auch ein Bild für den ÖRK.
Gabi Ballweg

Rund um die Vollversammlung
Der Zentralausschuss wählte den bayerischen Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm zum neuen Vorsitzenden. Das Programm der Delegierten wurde flankiert von rund 100 Workshops und Ständen, die von Kirchen, Gemeinden und Institutionen verantwortet wurden. Stadt und Kirchen der Region hatten ein breites kulturelles Begleitprogramm und Ausflugsangebote auf die Beine gestellt. Die Fokolar-Bewegung war mit dem Team des Zentrums „Uno“, dem internationalen Ökumene-Sekretariat, Vertreterinnen und Vertretern der Bewegung aus Deutschland, Schweiz, Irland und Rumänien vertreten und gestalteten einen Stand und einen Workshop mit dem Titel „Dialog als Lebensstil: Methodik und Praxis“.

www.karlsruhe2022.de


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, November/Dezember 2022.
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