5. Dezember 2022

Kein Lieblingsthema

Von nst5

Darüber, dass man selbst Pflege brauchen könnte, spricht keiner gern.

Auch gesellschaftlich nicht. Weil das Thema komplex ist, setzen wir die Menschlichkeit aufs Spiel.

Aufgewachsen bin ich in einem kleinen Dorf. In unserem Haushalt lebten außer meinen Eltern und vier Geschwistern auch meine Großeltern und eine Großtante. Meine Eltern hatten einen Hof. Die Arbeit forderte sie, aber tagsüber waren sie meist in Rufweite. Onkel und Tanten lebten zwar mit ihren Familien in anderen Orten, aber nicht allzu großer Entfernung. Als mein Opa einen Schlaganfall hatte und danach halbseitig gelähmt war, blieb er weiter zuhause. Zusammen mit dem Pflegedienst, dem Groß-Familien-Netz und gelegentlicher Unterstützung aus der Nachbarschaft war das – wenn auch unter großem Einsatz meiner Mutter – möglich. Wenn wir in der Familie heute darüber sprechen – was eher selten vorkommt –, hoffen insgeheim alle, und zuallererst mein Vater, dass er noch lange so fit ist wie zurzeit. Uns ist klar, dass es heute so wie mit meinem Großvater nicht mehr möglich wäre.
Mir scheint, dass die Lage bei vielen ähnlich ist, auch was das Gespräch darüber betrifft. Pflege und Betreuung in Anspruch zu nehmen, die eigene Selbstständigkeit nach und nach aufzugeben oder ganz zu verlieren, fällt schwer. Nicht selten schiebt man Entscheidungen dann vor sich her. Hinzu kommen Erzählungen und Meldungen über Pflegenotstände in Krankenhäusern oder Altenheimen, wo die Menschlichkeit auf der Strecke zu bleiben scheint.

Illustrationen: (c) ma_rish (iStock)

Auch gesellschaftlich haben wir das Thema immer wieder auf die lange Bank geschoben. Die Pflege älterer und kranker Menschen ist eine zentrale gesellschaftliche Aufgabe. Seit Jahren sehen wir aber eine Zuspitzung auf uns zukommen: Einer wachsenden Zahl pflegebedürftiger Menschen steht eine schwindende Anzahl von Schulabgängerinnen und Schulabgängern gegenüber. Je nach Region müsste in Deutschland – für die Schweiz und Österreich stellt sich die Lage ähnlich dar – ab etwa 2030 jeder zweite von ihnen einen Pflegeberuf aufnehmen, um zumindest die heutige Versorgungssituation sicherzustellen.
Wenn man über die Zukunft der Pflegesituation spricht, sind die Finanzen ein zentraler Aspekt. So sind die Kosten in stationären Einrichtungen – egal ob in Kranken- oder Altenpflege – vor allem durch Personalkosten und technische Ausstattungen enorm gestiegen. Einen Krankenhaus- oder Pflegeheimplatz zu finanzieren und zu unterhalten, übersteigt zunehmend die Möglichkeiten der Kommunen, Kassen, Verbände, freien Träger und Privatpersonen.
Schon seit Jahren weisen vor allem die Sozialverbände eindringlich darauf hin, dass hier Lösungen gefunden werden müssen. Es gab und gibt Tagungen, Konferenzen, Pilotprojekte und anderes zum Thema. Gegengesteuert wurde vor allem durch Optimierungsüberlegungen und neue Vorschriften. Das ist sicher auch notwendig. Allein dadurch ist der Status-Quo weder zu halten noch zukunftsfest zu machen. Aber die Zusammenhänge sind komplexer. Wo Organisation und Bürokratisierung übertrieben wird, schadet das eher, Pflegekräften und Pflegebedürftigen.
Die Entwicklung des Pflegebedarfs ist von einer Vielzahl von Faktoren abhängig: Neben der demografischen Entwicklung (steigende Anzahl betagter Menschen im Verhältnis zu jungen, berufstätigen Menschen) spielen unter anderem die medizinische Versorgung und deren Fortschritt, die Lebensgestaltung des Einzelnen (Ernährung, Bewegung, Familienstand, Wohnumfeld), die Versorgungslandschaft (wie familiäre Unterstützung, Nachbarschaftshilfe, ambulante und stationäre Hilfen) sowie die technische Entwicklung eine große Rolle.
Es genügt nicht, nur an einem dieser Faktoren anzusetzen. Es braucht einen „ganzheitlichen“ Blick, den Mut, dabei noch mehr auszuprobieren oder ganz Neues zu wagen, und die nötigen Rahmenbedingungen. Mehr rechtliche Spielräume mahnen vor allem die Sozialverbände an. Was hier gut geht, muss an einem anderen Ort nicht unbedingt auch funktionieren. Es gibt gute Versuche und Ansätze, manche sehr erfolgversprechend. Aber oft müssen die Initiatoren gegen Strukturen, Traditionen, Vorgaben, gesetzliche Regelungen ankämpfen und verschleißen dabei wertvolle Energien.
Die vielen Akteure in diesem weiten Feld vernetzen sich immer besser. Aber leider gibt es auch noch Konkurrenzdenken und Abgrenzung zwischen einzelnen Institutionen und Organisationsebenen – politisch, kommunal und institutionell.

Illustration: (c) ma_rish (iStock)

Schon in den vergangenen Jahren gingen Überlegungen dahin, Pflegefachkräfte aus dem Ausland anzuwerben. Das kann ein Weg sein – aber auch er wirft Fragen auf, wie nicht zuletzt die Berichte aus der Praxis zeigen. Ausbildungsinhalte und Sprachkenntnisse sind das eine, aber auch kulturelle Fragen und Sensibilitäten dürfen nicht leichtfertig beiseite gewischt werden. Scheint, dass wir als Gesellschaft aus der Vergangenheit noch nicht genug gelernt haben.
Eine wichtige Kennzahl in der Diskussion ist die Pflegeprävalenz: Sie beschreibt die Anzahl Pflegebedürftiger an der Gesamtzahl der Bürgerinnen und Bürger und kann für einzelne Altersstufen spezifisch ausgewiesen werden. Modellrechnungen zeigen: Wenn Pflegesituationen auch nur um wenige Monate hinausgezögert werden können, hat das enorme Auswirkungen auf Personalbedarf und Kosten. Wie auch auf die persönliche Lebensqualität. Für eine gute und sinnvolle Prävention kann jeder seinen Teil tun: in der Sorge um sich selbst, im eigenen Wohnumfeld durch die Einbindung kranker und älterer Menschen, den wachsamen Blick füreinander auch in kleinen Dingen. Allein die Tatsache, dass jemand sich nicht einsam fühlt, weil Nachbarn hin und wieder vorbeischauen und grüßen, kann eine wertvolle Hilfe sein. Aus Untersuchungen ist bekannt, dass Menschen, die sich in ihrem angestammten Umfeld sicher und geborgen fühlen, später als andere pflegebedürftig werden.
Wir können nicht einfach weitermachen wie bisher. Wenn wir auch in Zukunft eine menschenwürdige Alten- und Krankenpflege gewährleisten wollen, müssen wir dringend umsteuern. Bei vielem sind Institutionen und Politik in der Pflicht. Aber zu mehr Menschlichkeit in seinem Umfeld kann jeder beitragen.
Gabi Ballweg


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, November/Dezember 2022.
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