Illustration: (c) ajijchan (iStock)
5. Dezember 2022

Mittendrin im Streit um die Kirche

Von nst5

Über einen erschütternden Moment auf dem Synodalen Weg der katholischen Kirche in Deutschland.

Ein paar Sekunden ist es still im Saal. Langsam realisieren immer mehr, dass der Text die erforderliche Mehrheit von Seiten der Bischöfe nicht erhält. Auch bei mir sickert die Erkenntnis bei der Betrachtung der Ergebnisse, die zwei große Leinwände für alle sichtbar machen, langsam durch.
Der Text, in den über zwei Jahre viele Stunden Arbeit geflossen sind und für den um so viele Formulierungen und Kompromisse gerungen wurde, ist abgelehnt. Es ist der Grundtext zu Fragen der Sexualethik. Der Text also, der sehr konkret auf die zahlreichen Vorfälle von Missbrauch und Vertuschung reagiert, die durch Tabuisierung und negative Bilder von Sexualität in der Kirche begünstigt sind, wie verschiedene Studien aufzeigen. Die Mehrheit der Bischöfe hatte zwar für den Text gestimmt. Doch 21 waren dagegen; nur wenige von ihnen hatten im Laufe des Prozesses Bedenken geäußert. Ihre Stimmen reichten jedoch, um den Text scheitern zu lassen. Obwohl 83 Prozent der Synodalversammlung zustimmten.
Eine Kluft wird spürbar zwischen den Bischöfen und einem Großteil der Versammlung. Ich weiß noch, wie ratlos ich war. Ich hatte einfach nicht mit diesem Ergebnis gerechnet. Meine Gedanken werden durchbrochen durch laute Rufe. Unmut macht sich breit. Ohne, dass ich es so richtig mitbekommen habe, bildeten junge Menschen einen Kreis. Einer hält ein Schild in die Höhe: „Kein Platz für Menschenfeindlichkeit“. Arm in Arm stehen sie mitten im Saal, als wollten sie einen Raum bilden, der Menschen vor der Versammlung schützt. Im Kreis stehen zwei und weinen, sie sind queer und wieder einmal hören sie durch die Ablehnung des Textes die Botschaft: „Ihr seid defizitär; ihr gehört nicht wirklich dazu.“ Immer mehr Menschen treten in die Mitte und vergrößern den Kreis. „Wo sind die Hirten?“ Ein Teilnehmer ruft die Frage in den Raum. Einmal, zweimal, dreimal: „Wo sind Hirten?“ Die Frage hallt unbeantwortet durch den großen Konferenzsaal.

Traurigkeit
Bei mir stellt sich Traurigkeit ein. Mir kommen Menschen in den Sinn, die diese Ablehnung schmerzt. Zuallererst queere Menschen und Betroffene von Missbrauch, mit denen ich in Kontakt stehe. Auch viele junge Menschen, die nur mit Unverständnis und nicht selten mit Wut darauf schauen können, die gerne Teil der Kirche sind, aber auf keinen Fall Teil von Ausgrenzung sein wollen. In mir wird die Frage lauter: „Wer wird in Zukunft noch Teil der Kirche sein wollen? Wenn sie es in so existenziellen Bereichen wie der Sexualität und der sexuellen Identität nicht vermag, unmissverständlich die Botschaft der bedingungslosen Annahme Gottes zu verkünden?“ Bei allen verständlichen unterschiedlichen Perspektiven darauf stelle ich fest: Mir fehlen in der Versammlung die theologischen Argumente dafür, an den bisherigen Vorstellungen über den Menschen festzuhalten und gleichzeitig Ausgrenzung in der Kirche keine Chance zu geben.

Illustration: (c) ajijchan (iStock)

Traurigkeit empfinde ich auch über die spürbare Kluft. Ich gehe davon aus: Niemand in der Versammlung möchte ausschließen und ganz gewiss möchte niemand Menschenfeindlichkeit Platz machen. Ich möchte sogar davon ausgehen: Alle Teilnehmenden suchen das Gute für die Menschen und für die Kirche. Es fällt mir nicht leicht, mir in jedem Moment diese Überzeugung vor Augen zu halten, aber ich versuche es. Mir ist auch klar, dass es Menschen außerhalb der Versammlung gibt, denen die Entwicklungen zu weit oder zu schnell gehen. Ich will Verständnis aufbringen für die besondere Rolle der Bischöfe, ihre Art der Treue zur Lehre und den Druck von verschiedenen Seiten, den sie empfinden mögen. Zugleich sehe ich ihre Leitungsaufgabe, die von ihnen verlangt, den Prozess mitzutragen und sich am Diskurs zu beteiligen. Hirte-Sein kann nur Nähe zu den Menschen vor Ort bedeuten. Das bedeutet nicht, Meinungen der Mehrheit anzunehmen, aber gewiss bedeutet es, deutliche Voten der Gläubigen vor Ort anzuerkennen und in den weltweiten Diskurs einzubringen.

Zusammenbleiben
Was heißt all das für mich als Priester, der für die Einheit in dieser Kirche und damit für alle Menschen in ihr leben will? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich im Zweifel eher bei den Verwundeten sein möchte. Nach einigen Momenten trete ich selbst zu dem Kreis. Durchaus mit der Unsicherheit, ob ich eine Kluft verstärke. Aber in dem Moment war ich kein Beobachter, sondern mit ganzem Herzen da; auch ein Bleiben am Platz wäre für mich eine Positionierung gewesen. Ich wünsche mir eine Kirche, die zusammensteht, statt in gegenseitigen Vorwürfen Gruppierungen zu bilden. In dem Moment wollte ich mit den Menschen dort im Kreis Kirche sein.
Später am Abend gibt es getrennte Aussprachen: Die Bischöfe unter sich, alle anderen unter sich. So manches Mal merke ich während der Stellungnahmen in mir die Frage: „Ist der Synodale Weg vorzeitig ans Ende gekommen?“ So deutlich war die Enttäuschung über Bischöfe, die qua Amt ein großes Stimmgewicht haben, sich aber am Prozess nicht beteiligen.
Wir sind zusammengeblieben. Warum? Vielleicht, weil allen bewusst war, dass ein Abbruch großen Schaden bringen könnte für zukünftiges Gespräch in der Kirche und auch für das bisher Erreichte. Vielleicht auch, weil in der Versammlung nicht nur Menschen zusammenkommen, die aufgrund von Amt oder Mandat über theologische Fragen nachdenken, sondern Menschen, die je einen Weg mit Jesus gehen und die in Krise und Konflikt an das Mitgehen Gottes glauben können. Ein Psalmwort kommt mir in den Sinn: „Ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz wirst Du, Gott, nicht verschmähen.“ Gewiss ist etwas zerbrochen an diesem Abend an Vertrauen, Zuversicht und Miteinander. Viele werden das niedergeschlagen mit ins Gebet genommen haben, im Glauben, dass Gott es anschaut. Im Glauben, dass er vielleicht sogar etwas damit anfangen kann. Wenn ich vorsichtig hoffnungsvoll bin, kann dieser Konflikt zu mehr Ehrlichkeit, mehr Ernsthaftigkeit und letztlich mehr Synodalität führen. Am Tag danach wurde etwas davon spürbar, in den weiteren Diskussionen veränderte sich der Ton, es wurde offener gesprochen. Bedenken wurden geäußert und Kompromisse entwickelt. Gott hat etwas angefangen, als Versammlung können wir es zu einer nachhaltigen Lernerfahrung machen.
Jener Donnerstagabend ist mir ganz tief in Seele und Gedächtnis gefallen: Als ein Bild für eine uneine Kirche. Ich persönlich erhoffe mir eine Kirche, in der alle die Erfahrung machen, dass in großer Offenheit die Verschiedenheit der Perspektiven etwas Gemeinsames hervorbringt. Aber an dem Punkt sind wir nicht. Häufig haben wir eher den Eindruck, dass wir uns voreinander hüten müssen, und manchmal müssen wir inmitten der Kirche sogar Menschen voreinander schützen. Also noch ein langer Weg. In einem hat die vergangene Synodalversammlung mich bestärkt: Ich möchte diesen Weg gehen und für ihn werben. Wohin auch immer er im Konkreten führen mag.

Michael Berentzen
ist Priester, war zuletzt Studierendenseelsorger in Münster und promoviert derzeit in Rom zum Thema Synodalität. Er ist Mitglied der Synodalversammlung und im F­­orum „Leben in gelingenden Beziehungen“.


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, November/Dezember 2022.
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