1. August 2023

„In uns fließt das gleiche Blut.“

Von nst5

Juden, Christen und Muslime leben oft nebeneinanderher.

Die Jugendbewegung „Coexister“ hat sich zur Aufgabe gemacht, Menschen unterschiedlicher Weltanschauungen zusammenzubringen.

Ein lauer Spätnachmittag im Kölner Osten. Die Sonne wärmt den Balkon im dritten Stock eines Reihenhauses mit Blick in den Innenhof. Carolin Hillenbrand ist in Fahrt. Ihr Thema: die Religionen und ihre enorme Kraft – sowohl für den Frieden als auch für den Krieg.

Carolin Hillenbrand.
Alle Fotos: (c) Coexister Germany e.V.

Die 30-jährige Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Exzellenzcluster Religion und Politik der Universität Münster trägt ein violettes T-Shirt mit weißem Schriftzug, der deutlich macht, für wen sie sich engagiert: Coexister, eine neue, junge Friedensbewegung.
Ranjid gehört dazu. Er stammt aus Indien. Dort hat er schlimme Diskriminierungs-Erfahrungen mit Muslimen gemacht. Als die Kölner Lokalgruppe von Coexister eine Moschee besuchen möchte, erzählt Carolin Hillenbrand ihm davon. Ranjid antwortet, er werde auf keinen Fall in eine Moschee gehen, da der Islam „die Wurzel allen Übels“ sei. Carolin Hillenbrand gibt nicht auf, lädt ihn kurze Zeit später zur Blutspende ein und fügt hinzu: „Meine muslimischen Freunde sind auch dabei. Danach gibt es Pizza für alle.“ Beim gemeinsamen Essen trifft Ranjid nach vielen Jahren erstmals wieder Muslime. Die Begegnung verändert. „Es ist so schön zu sehen“, freut sich Carolin Hillenbrand noch heute, „wie sich das anfängliche ‚Muslime sind alle böse und gewalttätig’ zu ‚mein Freund, der Hashim’ gewandelt hat.“
Coexister möchte, dass junge Menschen mit unterschiedlichen Überzeugungen sich gegenseitig kennenlernen. Dieser Dialog ist eine ihrer drei Säulen. Solidaritäts-Aktionen nach der Devise „different faiths – common actions“ („unterschiedlicher Glaube – gemeinsames Handeln“) bilden die zweite Säule. Hinzu kommt die Sensibilisierung für dieses Thema mit Workshops an Schulen, in Bildungseinrichtungen oder auf Kirchen- und Katholiken-Tagen.
Coexister: Der Name ist Programm. Die Schreibweise durchdacht. Das C ist als „Halbmond“ dargestellt, der den Islam symbolisiert. Das X zeigt den Davidstern und steht für das Judentum. In dem T erkennt man das Kreuz und damit das Christentum. Doch damit nicht genug. Die anderen Buchstaben symbolisieren Weltanschauungen wie den Atheismus („ohne Gott“) oder Agnostizismus („Gottes Existenz ist nicht beweisbar“). „Etwa die Hälfte der Menschen in Deutschland schaut so auf die Welt“, weiß Hillenbrand. Zudem ist ihr noch etwas bewusst: „Die größte Kluft herrscht oft zwischen den ganz Religiösen und den gar nicht Religiösen. Hier wollen wir Vorurteile ab- und Brücken aufbauen.“
Heppenheim an der Bergstraße. Die Heimat von Carolin Hillenbrand. Formel 1-Weltmeister Sebastian Vettel, mit dem sie auf einer Schule war, kommt von hier, Orgel-Pianist Franz Lambert ebenso. Gemeinsam mit ihnen ist sie „Botschafterin der Bergstraße“, seit sie 2019 zur Deutschen Weinprinzessin gewählt wurde.

Junge Menschen mit unterschiedlichen Überzeugungen sollen sich kennenlernen.

Auf der „Vinexpo“, der internationalen Weinmesse in Paris 2020, verabredete sich Carolin Hillenbrand nach Feierabend mit Samuel Grzybowski, der in Frankreich „Coexister“ ins Leben gerufen hatte. Beide kannten sich flüchtig aus Taizé – „spirituelle Heimat“ und eine große Kraftquelle in ihrem Glauben. Samuel Grzybowski hatte 2009 anlässlich des Israel-Palästina-Konflikts mit drei Freunden – einem Atheisten, einem Juden und einem Moslem – beschlossen, „Blut zu vergießen“, jedoch nicht für den Krieg, sondern für den Frieden. So gingen sie zum Blutspenden.
Die Blutspende ist eine Kern-Solidaritäts-Aktion bis heute. Für Carolin Hillenbrand ein starkes Zeichen: „Durch unseren menschlichen Körper fließt das gleiche Blut, egal, welche Hautfarbe du hast, egal, an was du glaubst.“ So gehen sie jährlich am Weltblutspendetag am 14. Juni an verschiedenen Orten in Deutschland Blut spenden und motivieren auch andere dazu.

„Wir dürfen so sein, wie wir sind.“

Mitten in der Corona-Pandemie, in der die Gefahr von Vereinzelung und Polarisierung wuchs, meldet sich Yannis Umlauf aus Bonn, der in Paris seinen Master in Menschenrechte macht, über die sozialen Medien bei ihr. Schnell fassen sie den Entschluss, ihre Friedens-Initiative deutschlandweit aufzuziehen. Im Frühjahr 2021 gründen sie den Verein „Coexister Germany e.V.“ – die zehn Gründungsmitglieder gehören unterschiedlichen Religionen und Konfessionen an. Mittlerweile zählt der Verein mehr als fünfzig Mitglieder. Mit ihren lokalen und nationalen Aktionen haben sie bereits mehrere Tausend Menschen erreicht.
Auf der bundesdeutschen Landkarte sind sie mittlerweile mit Lokalgruppen gut vertreten: Freiburg, Tübingen, Heidelberg/Mannheim, Mainz/Frankfurt, Köln/Rheinland, Münster und Berlin. Darüber hinaus organisieren sie regelmäßig überregionale Tagungen und Begegnungswochenenden. „Wir machen greif- und erlebbar, wie Einheit in der Vielfalt gelingen kann“, reflektiert Carolin und ist dabei auch von der Ausrichtung der Fokolar-Bewegung auf die Einheit unter den Menschen inspiriert. 2018 hat sie die Fokolar-Bewegung kennengelernt und war so begeistert, dass sie sich seitdem dort aktiv engagiert, wie zum Beispiel zurzeit in ihrer Wohngemeinschaft mit vier weiteren Jugendlichen in einem sozialen Brennpunktviertel in Köln. „Coexister und die Fokolar-Bewegung passen sehr gut zusammen und wir können uns gegenseitig bereichern“, schlussfolgert Carolin.

„Die größte Kluft herrscht oft zwischen ganz Religiösen und gar nicht Religiösen.“

Dieses Jahr wird die große Herbsttagung vom 27. bis zum 29. September in Berlin stattfinden. Unter dem Motto „Jugend macht Zukunft“ wird wieder ein vielfältiges Programm geboten: mit Workshops, Podiumsdiskussion, spirituellen Auszeiten, interreligiösen Gebeten und Solidaritätsaktionen.
Oftmals machen sie auch die Erfahrung: „We agree to disagree“ – sprich: „Wir sind uns einig, dass wir uns nicht einig sind.“ Sie diskutieren und sie streiten. „Dabei bemühen wir uns stetig“, so Hillenbrand, „das Verbindende zu finden und seien es Grundbedürfnisse wie gemeinsam essen oder gemeinsam beten oder einfach nur still sein.“ Bei ihren Begegnungen bieten sie immer einen Raum der Stille an, einen Ort, an dem existenzielle gemeinsame Erfahrungen spürbar werden. „Erlebnisse, die uns alle verbinden – egal ob wir politisch eher rechts oder eher links sind“, erläutert die Coexister Germany Mit-Gründerin, „ob wir an Gott oder Allah oder an keine Gottheit glauben.“
Professionelle Unterstützung kann dabei hilfreich sein. Bei der bundesweiten Herbsttagung Ende Oktober in Berlin wird das Kölner Institut für interkulturelle Kompetenz (KIIK) ein spezielles Kommunikations-Training durchführen. Im vergangenen Herbst war die Gewaltfreie Kommunikation (GFK) Thema.
Sie wappnen sich, um auch unbequeme Themen erfolgreich ansprechen zu können. „Wir dürfen so sein, wie wir sind. Gleichzeitig“, so erlebt es Hillenbrand, „gibt es noch etwas Höheres oder Weiteres oder Tieferes, was uns verbindet und trägt.“
Carolin Hillenbrand hat schon ein „Follow-Up“-Projekt im Kopf: ein multi-religiöses Wohnprojekt. Es soll eine Wohn- und Lebens-Gemeinschaft sein von Menschen unterschiedlichster Couleur. „Mein Konzept steht. Ich brauche nur noch die passende Immobilie dazu.“
Hubert Schulze Hobeling

Coexister Germany e.V.
Coexister sieht sich als soziale Friedensbewegung. Sie wird von jungen Leuten zwischen fünfzehn und 35 Jahren getragen. Ziel ist es, sich für Freundschaften zwischen Menschen mit unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen und Weltanschauungen einzusetzen.
Der Verein, der 2021 nach französischem Vorbild gegründet wurde, ist konfessionsunabhängig und überparteilich.

Weitere Informationen unter: www.coexister.de



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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Juli/August 2023.
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