Sich bedürftig machen
Antonella Ritacco
Für andere da sein und Hilfe annehmen sind zwei Haltungen, die vieles im Leben von Antonella Ritacco verändert haben.
Antonella Ritacco stammt aus Italien. Sie lebt seit sieben Jahren mit ihrem Mann im badischen Gengenbach und arbeitet als Psychotherapeutin in einer psychiatrischen Klinik. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit in Italien war die Begleitung von Menschen, die ungewollt allein leben.
Nach einer langen und enttäuschenden Liebesbeziehung hatte ich erstmal kein Interesse, eine neue Beziehung einzugehen. Ich wollte stattdessen Abstand gewinnen und tief in mich hineinschauen. Dort fand ich so viel Schönes, dass es mir in diesem Moment genügte. Jedem, der interessiert an mir war, machte ich schnell und unmissverständlich klar, dass für mich eine Beziehung nicht in Frage kam. Ich umgab mich mit einem Panzer, mir ging es gut, und ich wollte nicht wieder verletzt werden. Doch tief in meinen Inneren fing ich allmählich an zu spüren, dass mir etwas fehlte. Es schlich sich langsam das Gefühl der Einsamkeit ein. Ich spürte, ich musste etwas ändern, aber wie?
Von Chiara Lubich habe ich gelernt, in einer Krise den Blick vom eigenen Bauchnabel weg auf andere zu richten. Ich hob dann den Blick auf die Gesellschaft und auf das Phänomen „Single“. So begann ich, was ich für mich selbst gelernt hatte, in den Dienst anderer zu stellen. Jedes Mal, wenn ich einen Menschen auf dem Weg zur Beziehungsfähigkeit unterstützte oder ein Paar begleitete, war ich glücklich. Ab und zu fragte ich mich: „Ist es natürlich, dass ich mich für sie freue und keinen Neid empfinde?“
Zu lieben, für andere da sein: Das war das eine, aber es brauchte noch etwas anderes.
Einige Zeit vorher hatte ich einen Kurs für Singles und junge Verlobte über die „Liebe nach dem Bild Gottes“ in Assisi besucht. Dort hatte mir ein Pater eine Regel mitgegeben: „Lerne, dich bedürftig zu machen.“ Konnte ich das als Frau, die es gewohnt war, alles unter Kontrolle zu haben? Heute kann ich sagen, dass die beiden Haltungen „Liebe und lass dir von anderen helfen“ mir entscheidend geholfen haben.
Eines Tages sagte eine Freundin zu mir: „Du solltest einen Freund von mir kennenlernen.“ Ich dachte: „Jemanden kennenlernen, weil eine Freundin ihn mir vorstellen will?“ Kurze Zeit später heiratete diese Freundin, und auch er war eingeladen. Zunächst fand ich eine Reihe guter Gründe abzusagen. Doch meine Freundin ließ nicht locker. Drei Tage vor dem Fest sagte ich zu, ich wollte ihr eine Freude machen.
Am Tag selbst – wir beide wussten noch nicht, wer der andere war – bat er mich, ein Foto von ihm mit dem Brautpaar zu machen. Später saßen wir an einem Tisch und haben den ganzen Abend erzählt und getanzt.
Als er mich zwei Monate später in Rom besuchte, befürchtete er, dass ich ihm nicht alles erzählt haben könnte, und er mich bei seiner Ankunft neben jemand anderem vorfinden würde. Als er mir dann von der Beziehung zu seiner Oma erzählte, hat mich das so tief berührt, dass ich Angst bekam, mich in ihn zu verlieben. So lernten wir uns kennen, mit unseren Stärken und Schwächen, offen und ehrlich gegenüber sich selbst und dem anderen. Heute kann ich sagen: Ängste und Widerstand waren da; wir haben das nicht verschwiegen und sind immer respektvoll mit den jeweils eigenen Einstellungen umgegangen. Er war der Richtige zum richtigen Zeitpunkt; und ich war bereit dafür, ihn anzunehmen genauso wie er ist.
Inzwischen sind wir neun Jahre glücklich verheiratet. Wir erfahren jeden Tag, dass die Liebe nicht selbstverständlich ist; man muss offen für sie sein und bereit, sie anzunehmen.
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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, September/Oktober 2023.
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