1. Februar 2024

Auf die Zunge beißen

Von nst5

Wenn Kinder volljährig werden,

aber noch mit den Eltern im Haus wohnen, ändert sich äußerlich zunächst wenig, trotzdem ist es für alle – auch rechtlich – eine andere Situation. Worauf sollten Eltern und erwachsene Kinder im Zusammenleben achten?

Ildima Nevelős-Forgács
Journalistin, Mediatorin und Mutter, Pilisborojenő, Ungarn
Wir haben vier Kinder zwischen 18 und 25 Jahren. Drei von ihnen leben noch mit uns. Ich bin davon überzeugt, dass wir Eltern uns oft „auf die Zunge beißen” sollten. Im Gespräch möchten die Kinder ihre Erlebnisse erzählen und wollen nicht immer auch die „Weisheiten” oder Ratschläge der Eltern hören. Gute Fragen ohne Hintergedanken zu stellen, muss man in dieser Zeit auch erlernen, sonst geht die Kommunikation schief – bis dahin, dass eine Bemerkung der Eltern gar als Beleidigung aufgefasst wird. In manchen Momenten scheint es mir, wir redeten in gelöster Stimmung, und plötzlich kommt ein: „Was willst du damit sagen?” Es ist gar nicht so einfach, gut zuzuhören. Außerdem ist das passende Timing elementar! Um die Zeit zu einem guten Gespräch nicht zu verpassen, braucht man Flexibilität. Wenn es mir passt zu reden, kann das „Kind“ zu beschäftigt oder müde sein. Für mich hingegen ist es schwierig, wenn meine Kinder noch schnell was Wichtiges besprechen wollen, kurz bevor sie das Haus verlassen. Dann bleibt einfach nicht genügend Zeit. Vor allem aber wünsche ich mir, dass unsere Kinder uns weiterhin ehrlich sagen, wenn sie Probleme mit uns haben, und nicht aufgeben, die Situation zu besprechen, auch wenn es beim ersten Versuch nicht gelingt.

Valentina Binder
Auszubildende, Tulln an der Donau, Österreich
Wenn die Eltern auf einmal nicht mehr über ein jetzt volljähriges Kind bestimmen können, ist das schon eine Umstellung. Ich denke, es braucht nun eine umso klarere Kommunikation darüber, wer welche Kosten und Aufgaben im Haushalt übernimmt. Klar, als junger Mensch muss man sich stärker an das anpassen, was den Eltern wichtig ist. Jetzt jedoch entwickelt sich das Zusammenleben immer mehr zu einer Wohngemeinschaft, in der Eltern und das erwachsene Kind sich auf Augenhöhe begegnen.
Eine große Aufgabe sehe ich darin, einerseits die Beziehung und Verbindung zur Familie lebendig zu halten, andererseits das eigene Leben und soziale Umfeld aufzubauen. Die neu gewonnene Autonomie stellt eine große Gestaltungsfreiheit dar, ist aber in manchen Momenten auch beängstigend. Schließlich liegt nun die volle Verantwortung bei einem selbst. Hierbei hilft es ungemein, sich an erfahrenere Vertrauenspersonen wenden und bei ihnen Unterstützung finden zu können.
Meiner Erfahrung nach ist es sehr wertvoll, den Fokus immer auf gegenseitiges ehrliches Verständnis zu legen. Alle sollten aussprechen dürfen, was ihnen wichtig ist, ohne dabei Vorwürfe zu machen. Sobald klar ist, dass auch das Gegenüber an einer gemeinsamen Lösung interessiert ist, fällt es leichter, aufeinander zuzugehen.

Clemens Metzmacher
Psychotherapeut, Unterengadin, Schweiz
Mit 18 ist man volljährig, aber auch erwachsen? Woran wollen wir das festmachen? Die Geschäftsfähigkeit ist da, aber auch Eigenständigkeit und Selbstverantwortung? Das ist oft nicht klar zu beantworten. Im Miteinander ändert sich erst einmal nicht so viel, wenn die Kinder volljährig werden, was der tatsächlichen Veränderung nicht ganz gerecht wird.
Insofern kann es helfen, die Unterschiede zu vorher bewusst zu gestalten und sichtbar zu machen, Abmachungen und Verantwortlichkeiten neu zu klären. Bisher unausgesprochene Erwartungen sollten klar benannt werden. Wenn es konkret wird, ist mit Reibungen zu rechnen. Es braucht Räume und auch Rituale, um das neu aushandeln zu können. Außenstehende können helfen, dabei klar zu bleiben. Psychologisch betrachtet ist es ein Schritt im Prozess derLoslösung – mit Wünschen, Trauer, Unsicherheit oder Enttäuschungen – und der Verbindung auf einer anderen Beziehungsebene. Beides – Loslösung und neue Verbindung – fordert Eltern und Kind gleichermaßen: mit Verantwortungsübernahme, Mut zum Alleinsein und Vertrauen in eine gute Entwicklung. Orientierung geben kann der Austausch über die Frage: „Angenommen, wir hätten eine erwachsene Beziehung, wie sähe die aus? Und was machen wir auf dem Weg?”

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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Januar/Februar 2024.
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