1. Februar 2024

Vielschichtig: Albanien

Von nst5

Albanien gehört zu den wenig beachteten Ländern Südosteuropas.

Mit einer Gruppe aus Deutschland, Österreich und der Schweiz haben wir bei einer NEUE-STADT-Reise erfahren, wie viele kulturelle und politische Einflüsse es geprägt haben.

Alle Fotos: (c) Clemens Behr

Landung am Flughafen von Tirana. Vermutlich nehmen viele Reisende Mutter Teresa von Kalkutta gar nicht wahr. Wer jedoch die Augen offenhält, wird gleich mehrfach von ihr begrüßt: Der Flughafen ist nach ihr benannt; davor steht eine abstrakte Figur im Weiß-Blau ihrer Ordenstracht und eine weitere Statue befindet sich unweit davon auf einer Verkehrsinsel.
Mutter Teresa stammte aus einer albanischen Familie. Sie wurde 1910 in Üsküb geboren, dem heutigen Skopje, der Hauptstadt Nordmazedoniens. Üsküb war damals Teil des Osmanischen Reiches, von dem Albanien erst 1912 unabhängig wurde. Ihr Vater kam aus einer Region im Norden Albaniens, ihre Mutter aus dem Kosovo. Allein das lässt erahnen, wie bewegt die Geschichte des Landes ist, und dass Albaner nicht nur innerhalb seiner heutigen Grenzen leben: Dort sind es fast drei Millionen, weitere rund drei Millionen im Kosovo, in Nordmazedonien, Montenegro, Serbien und Griechenland.
Bei der Weiterfahrt nach Elbasan tauchen am Straßenrand die traurigen Gerippe unfertiger Häuser auf. Dazu neue Wohn- und Fabrikgebäude, die gespenstisch ungenutzt in der Landschaft stehen. So wie ein neues Edelhotel mit 180 Zimmern, das 2015 eröffnet werden sollte, wie unser albanischer Reisebegleiter erklärt, aber noch immer ohne Leben ist. Korruption? Mafia-Geschäfte? Niemand wisse genau, warum.
Albanien zählt zu den ärmsten Ländern in Europa. Das Durchschnittsgehalt liegt bei 460 Euro im Monat. Seit 2016 haben über 600 000 Menschen das Land verlassen, oft junge, gut ausgebildete Arbeitskräfte. Sie suchen ihr Glück in Mittel- und Westeuropa. Aber auch ältere Albaner arbeiten im Ausland und schicken Teile ihres Verdienstes in die Heimat. Oder bauen sich vom Ersparten einen Alterswohnsitz: Viele der leerstehenden Neubauten sind – wegen der dürftigen Renten – ihre Altersversicherung.

Am Tag darauf erfahren wir in Elbasan, dass die Stadt aus einem römischen Militärlager hervorging. Es wurde im 4. Jahrhundert an der Via Egnatia errichtet, einer römischen Handelsstraße, die jahrhundertelang auf albanischem Gebiet die wichtigste Fernverbindung war. Als Abzweig der Via Appia setzte sie sich auf der albanischen Seite der Adria fort und führte über Mazedonien und Thessaloniki bis ins heutige Istanbul.
In Elbasan machen wir erste Bekanntschaft mit zwei Religionsgemeinschaften in Albanien: In der Königsmoschee, deren Bau 1492 begonnen wurde, mit dem sunnitischen Islam und in der Marienkirche, einer Kuppelbasilika von 1833, mit dem albanisch-orthodoxen Christentum. Viele Albaner wurden unter der Osmanischen Herrschaft, die von 1385 an mit einer Unterbrechung fast 500 Jahre dauerte, Muslime.

Unser Reisebegleiter stellt uns einen greisen orthodoxen Priester vor. Nachdem der kommunistische Diktator Enver Hoxha 1967 Albanien zum „ersten atheistischen Staat der Welt“ erklärt und jede Religionsausübung verboten hatte, arbeitete der Geistliche als Buchhalter in einem Metall-Betrieb. Die Fresken an den Wänden wurden weiß übertüncht, die Kirche als Militärlager genutzt. Ein Teil der Gläubigen und Geistlichen aller Religionen wurde verhaftet, deportiert oder umgebracht. Das gemeinsame Schicksal verbindet und trägt dazu bei, dass Christen und Muslime hier tolerant und friedfertig miteinander leben. Der orthodoxe Geistliche in Elbasan konnte erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs seinen priesterlichen Dienst wieder aufnehmen.

Heiligen-Fesken in der Klosterkirche Sveti Naum

Obwohl unter Hoxha viele Gebetsstätten zerstört oder umgenutzt und vernachlässigt wurden, lernen wir viele beeindruckende orthodoxe Gotteshäuser kennen, die erhalten blieben oder wiederhergestellt wurden. Darunter das im 9. Jahrhundert gegründete Kloster Sveti Naum auf der nordmazedonischen Seite des Ohridsees, die Nikolauskirche von 1722 in Voskopojë, die Marienkathedrale in Berat, die ein Museum des bedeutenden Ikonenmalers Onufri (16. Jahrhundert) beherbergt, das einzige von Mönchen bewohnte albanisch-orthodoxe Kloster des Landes in Ardenica und die erst 2012 fertiggestellte Kathedrale von Tirana.

In Berat, der „Stadt der Tausend Fenster“, besichtigen wir neben der Königsmoschee von 1492 auch die 1785 errichtete Sheh-Querim-Tekke. Eine Tekke ist das Zentrum einer islamisch-alevitischen Sufi-Bruderschaft. Dazu zählen in Albanien vor allem der Bektaschi- und der Halveti-Orden.

In Tirana schießen neben Bauten aus sozialistischer Zeit moderne Hochhäuser in die Höhe. Im Zentrum der albanischen Hauptstadt liegt der Skanderbeg-Platz mit einer großen Bronzestatue des Nationalhelden auf seinem Pferd. Skanderbeg, so nannten ihn die Osmanen, ist für die Albaner Gjergj Kastrioti. Der 1405 geborene Fürstensohn wurde am Hof des osmanischen Sultans in Adrianopel militärisch ausgebildet und islamisch erzogen. 1444, im Jahr, nachdem die Osmanen in der Schlacht bei Niš geschlagen worden waren, wechselte er die Seiten: Er nahm die osmanische Festung Krujë ein, wurde katholisch, suchte Verbündete und brachte von nun an den Osmanen Niederlagen bei. Die Festung in Krujë beherbergt heute das Skanderbeg-Museum, in dem uns die Geschichte Gjergj Kastriotis und seine identitätsstiftende Bedeutung für die Albaner nahekommt.
Albanien wurde erst 1912 eine offiziell anerkannte Nation. Kastrioti stärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl der Albaner ebenso wie die Herleitung ihrer Sprache, Geschichte und Kultur von den Illyrern. Im Widerspruch dazu steht, dass illyrische Ausgrabungsstätten schlecht erschlossen und zum Teil wenig gepflegt sind.

Gjirokaster

Von Butrint aus, einer Ausgrabungsstätte im Süden Albaniens, können wir die griechische Insel Korfu sehen. Butrint zählt wie Berat und die Felsenstadt Gjirokastër zum UNESCO-Weltkulturerbe. Hier besichtigen wir, gut aufbereitet, steinerne Zeugen der griechischen, römischen, byzantinischen, venezianischen und osmanischen Geschichte vom 8. Jahrhundert vor Christus bis in die Neuzeit.
Unterwegs fasziniert uns die oft raue und karge Berglandschaft Albaniens, in der hier und da Ziegen- und Schafherden weiden, Pferde und Esel Lasten tragen. Flüsse schlängeln sich hindurch, wild, ohne begradigt oder eingefasst zu sein. In der Zeit der Diktatur war Albanien jahrzehntelang isoliert und noch stärker heruntergewirtschaftet als andere kommunistische Länder.

Mini-Bunker aus der Zeit des Diktators Enver Hoxha in Tirana.

Daher war nach 1989 der politische und wirtschaftliche Wandel wohl in keinem anderen Land so radikal wie hier. Von der umfangreichen Metallindustrie blieb wenig, die Infrastruktur ist schwach, ein großer Teil der Landwirtschaft arbeitet nur für den Eigenbedarf. Auf Tourismus hat sich Albanien – abgesehen von Küstenabschnitten am Mittelmeer – noch kaum eingestellt, ist aber dabei, mehr dafür tun. Denn Busreisen, geführte Bergwanderungen und Radtouren in einer wenig berührten Natur finden zunehmendes Interesse.
Viele Albaner scheinen ein zwiespältiges Verhältnis zu ihren Nachbarvölkern zu haben, wir aber haben sie aufgeschlossen und gastfreundlich erlebt. Mit ihrem Land, der Sprache, ihrer Geschichte und den Kulturschätzen brauchen sie sich keinesfalls zu verstecken!
Clemens Behr

Albanien
Albanien (albanisch Shqipëria) liegt zwischen Montenegro und Griechenland am Mittelmeer, ist mit 28 748 km2 etwa so groß wie die Deutschschweiz oder das deutsche Bundesland Brandenburg. Das Land hat 2,8 Millionen Einwohner, davon über 600 000 in der Hauptstadt Tirana.
In einer Volkszählung 2011 bezeichneten sich 57 Prozent der Albaner als Muslime, zwei Prozent als Bektaschi; zehn Prozent als katholische und sieben Prozent als albanisch-orthodoxe Christen; acht Prozent als Gläubige ohne Glaubensgemeinschaft oder als Atheisten; 16 Prozent gaben keine Antwort.


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Januar/Februar 2024.
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