9. Oktober 2024

„Blau denken“

Von nst5

Der Zugang zu sauberem Wasser ist ein Menschenrecht.

Die Welt ist weit davon entfernt, dieses Versprechen einzulösen. Was jede und jeder tun kann.

„Aha.“ Eine solch verhaltene, etwas unsichere Reaktion habe ich ein paar Mal bekommen, als ich auf die Frage, was denn das Schwerpunktthema der kommenden Ausgabe sein würde, antwortete: „Wasser“. Auch die Präzisierung, dass es um die Frage gehen soll: „Wird Wasser knapp?“, half da nicht viel weiter. „Habt ihr euch nicht vertan?“, schien mir mancher Blick und Gesichtsausdruck zu sagen. Ist doch in diesem Jahr gerade in der Schweiz, Österreich und Deutschland besonders viel davon vom Himmel gekommen. In allen drei Ländern gab es schwere Überschwemmungen.
Und doch ist es unübersehbar: Weite Teile der Welt leiden unter Wassermangel. In Italien kämpfen die Menschen mit einer dramatischen Dürre. In Spanien geht das Grundwasser zurück; in den USA droht der Colorado River zu verschwinden. In vielen Ländern des Nahen Ostens, aber auch in Äthiopien und Pakistan fehlt Menschen seit Jahren der sichere Zugang zu sauberem Trinkwasser. Besonders schlimm wird es, wenn Terror und Krieg eine ohnehin prekäre Situation verschärfen. Bis 2050 könnte mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung von Wasserknappheit betroffen sein.
Dabei hat die Vollversammlung der Vereinten Nationen den Zugang zu sauberem Trinkwasser 2010 zum Menschenrecht erklärt. Bis 2030 sollte dieses Versprechen für die ganze Menschheit eingelöst sein. Das wird nicht gelingen! Zurzeit haben rund 2,2 Milliarden Menschen weltweit keinen regelmäßigen Zugang zu sauberem Wasser – das ist mehr als ein Viertel der Weltbevölkerung. 785 Millionen Menschen haben nicht einmal eine Grundversorgung mit Trinkwasser.
Sauberes Wasser wird auch deshalb zur Mangelware, weil es in großen Mengen durch Düngemittel und Pestizide aus der Landwirtschaft, Fäkalien und Medikamente aus der Tierhaltung und Gifte aus der Industrie verschmutzt wird. Weltweit werden 80 Prozent des Abwassers unbehandelt wieder in die Umwelt gespült.
Hinzu kommen die Folgen des Klimawandels. Wetterextreme nehmen zu, und so ist letztlich auch Hochwasser ein Zeichen dafür, dass der Wasserkreislauf in vielen Regionen der Welt gestört ist.
Die Vielschichtigkeit des Themas Wasser und Wasserknappheit hat sich uns erst nach und nach erschlossen. Einige Aspekte haben wir aufgegriffen: der persönliche Umgang mit Wasser; die Herausforderungen an die Städte, auch künftig genügend Trinkwasser bereitstellen zu können; die Situation in anderen Teilen der Welt am Beispiel Afrikas; der Zusammenhang zwischen Klimawandel und Wasserknappheit sowie Wetterextremen.

Bild: (c) saemilee (iStock)

Viele andere konnten wir nur anreißen, etwa die politisch-wirtschaftliche Dimension des Themas: Mit Wasser lässt sich viel Geld verdienen! Johannes Schmiester, Wasserexperte bei der Umweltorganisation WWF, spricht etwa von einer „ambivalenten Rolle“ der Mineralwasserindustrie: Sie böten „zumindest der Mittel- und Oberschicht auch dort Trinkwasser an, wo es ansonsten kein sauberes Wasser gibt.“ Wenn jedoch die einkommensstärkere Bevölkerung mit Trinkwasser aus Flaschen versorgt sei, sinke der Anreiz für Kommunen, sauberes Trinkwasser für alle bereitzustellen. 1
In unseren Ländern verbraucht jeder Mensch im Haushalt 120 bis 140 Liter Wasser pro Tag: beim Kochen, Putzen und Duschen, für die Toilettenspülung, die Wasch- und Spülmaschine. Rechnet man den Wasserverbrauch für die Herstellung der Nahrungsmittel und Güter mit, die jeder Mensch im Schnitt konsumiert, dann verbraucht jede und jeder von uns rund 4000 Liter am Tag.
Diesen „versteckten“ Wasserverbrauch nennt man virtuelles Wasser. Aber er ist real. Oft wird dieses Wasser nicht bei uns, sondern in ohnehin wasserarmen Regionen der Erde verbraucht. Dass es in ärmeren Ländern immer wieder zu Wasserkrisen kommt, ist also auch dem Konsum in der westlichen Welt geschuldet. Besonders viel Wasser geht in die Produktion von Fleisch. Ein Kilo Rindfleisch verbraucht mehr als 15 000 Liter Wasser. Auch die Herstellung und das Einfärben von Baumwolle braucht große Mengen Wasser, das meist auch noch massiv mit Schadstoffen belastet wird. Als problematisch gilt auch der Konsum von Gemüse, Fleisch und Früchten, die aus Regionen stammen, in denen die Wasserressourcen bereits jetzt überstrapaziert sind. Das trifft etwa auf viele Anbaugebiete für Zitrusfrüchte und Tomaten in Spanien oder den Avocado-Anbau in Chile zu.
„Menschlichkeit leben“ lautet der Untertitel der NEUEN STADT. Vielleicht machen diese wenigen Einblicke deutlich, dass unser Umgang mit Wasser sehr viel mit Menschlichkeit und Solidarität zu tun hat. „Es reicht nicht, grün zu denken, wir müssen auch ‚blau denken‘“, sagte die kanadische Wasseraktivistin Maude Barlow 2023 im Interview mit dem Greenpeace-Magazin. 2
„Blau denken“, also die gerechte und nachhaltige Versorgung mit Wasser für alle Menschen im Blick haben, darum bemühen sich etwa die „Blue Communities“, zu deutsch „blaue Gemeinschaften“. Berlin, Hamburg und München sowie Bern, St. Gallen und Neuenburg, die Universität Zürich und der Ökumenische Rat der Kirchen in Genf haben sich dieser Initiative angeschlossen.
Für jede und jeden von uns könnte „Menschlichkeit leben“ im Zusammenhang mit Wasser bedeuten, dankbar zu sein, dass wir über genügend Trinkwasser verfügen, achtsam mit dem kostbaren Nass umzugehen, Leitungswasser statt Wasser aus Flaschen zu trinken und politische Entscheidungen mitzutragen, auch wenn sie im ersten Moment die Lebensqualität zu verringern scheinen – wenn etwa Parkplätze wegfallen, um Boden in Innenstädten zu entsiegeln.
All das sind vermeintlich Kleinigkeiten, und tatsächlich müssen viele große Entscheidungen auf der politischen und wirtschaftlichen Ebene getroffen werden. Aber: „Nichts ist klein, was aus Liebe geschieht“, lautet einer der prägnanten Sätze von Chiara Lubich, der Gründerin der Fokolar-Bewegung. Oder noch einmal Maude Barlow: „Handle in dem Vertrauen, dass andere dasselbe tun.“
Peter Forst

1 zitiert aus: www.das-parlament.de/wirtschaft/wirtschaft/wasser-in-flaschen-ein-ambivalentes-spiel
2 Das ganze Interview findet sich unter bluecommunityberlin.de.


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, September/Oktober 2024.
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