Frei heraus
Kürzlich las ich: „Sage immer die WAHRHEIT,
aber sage nicht IMMER die Wahrheit.“ Mir ist bewusst, dass die Wahrheit verletzen kann, wenn sie im falschen Moment oder mit vorwurfsvollem Ton gesagt wird. Wann aber überschreite ich die Grenze zur Unehrlichkeit, wenn ich allzu rücksichtsvoll rede?
August Oggenfuss
Soziologe, Innsbruck
So formuliert, richtet sich die Frage an Personen, die eine Rolle als Erzieherin oder Erzieher innehaben oder in leitender Funktion tätig sind. Auch Menschen, die in partnerschaftlichen Beziehungen oder in religiösen Gemeinschaften leben, sollten gelegentlich ein Feedback in Form einer Ermutigung oder Zurechtweisung geben. Dabei geht es immer um eine persönliche Einschätzung, somit um eine subjektive Wahrheit. Es stellt sich die Frage des Ob, des Wie und des Wann.
Folgende Kriterien haben mich dabei oft geleitet:
Vorteilhaft ist ein Gesprächsmoment, zu dem ich einlade. So handle ich nicht im Affekt und gebe dem Gegenüber die Möglichkeit, sich auf ein Gespräch einzustellen.
Es hilft, Feedback-Methoden präsent zu haben. 1
Vor dem Gespräch sollte ich meine Absicht gut fokussieren: Geht es um Klärung, Hilfestellung zum Wachsen und Reifen, Überwindung von blockierten Situationen …?
Falls ich spüre, dass mein Gegenüber die „Wahrheit“ nicht annehmen wird, schiebe ich die Aussprache auf.
Erfahrungsgemäß gibt es wenige Situationen, wo ich die „Wahrheit“ sagen muss, etwa, wenn es um den Schutz von Personen geht.
Zum Schluss ein „Bonmot“, das meine Gedanken zusammenfasst: „Ich muss nicht immer die ganze Wahrheit sagen, doch was ich sage, muss wahr sein.“
1 www.start-pulse.com/de/ressourcen/wissen/feedback/methoden
Ingrid Bäuml
Fokolarin und Caritas-Mitarbeiterin, Bremerhaven
Als junge Frau habe ich einem Fremden in der Fußgängerzone das von ihm erbetene Feuer gegeben und ihm dabei, natürlich unabsichtlich, die Augenbrauen versengt. Damals erinnerte mich das an einen Aphorismus von Georg Christoph Lichtenberg, der mir Richtschnur war: „Es ist fast unmöglich, die Fackel der Wahrheit durch ein Gedränge zu tragen, ohne jemandem den Bart zu sengen.“ Mutig, könnte man meinen. War es auch, in vielen Situationen.
Ein Leben weiter ist es mir immer noch wichtig, frei heraus die Wahrheit zu sagen, aber nicht mehr um jeden Preis, sondern ich entscheide mich frei, je nach Situation. Finde ich auch mutig – immer die Wahrheit sagen wäre einfacher.
Auf Dauer bei Beziehungen „mitzuspielen“, in denen die wahren Gedanken und Empfindungen nicht mitgeteilt werden, und das unterschwellig mit Rücksichtnahme oder sogar Einheit gerechtfertigt wird, wäre für mich unehrlich. Sehr oft, mit großer Überwindung und unter Inanspruchnahme meiner Spiritualitätsschatzkiste, presche ich mit der Wahrheit vor, in der Hoffnung auf eine Reaktion, die uns weiterbringen kann. In 95 Prozent der Fälle kommt – nach einem Moment tiefer Angst um die mir wichtige Beziehung beziehungsweise um das mir wichtige Thema – eine positive Reaktion und das großartige Gefühl, dass sich der Einsatz gelohnt hat. Leicht wird es dadurch nicht.
Klara Sucher
Prozessbegleiterin, Berlin
Keiner besitzt die ganze Wahrheit. Diese Einsicht ist wichtig. Die „Wahrheit“ zu sagen, kann nur bedeuten, dass ich mich mit meiner Sicht auf die Situation einbringe.
Es ist wie bei einem Puzzle: Damit sich ein vollständiges Bild ergibt, bin ich gefragt, meine Perspektive vorzubringen und dabei zu wissen, dass mein Puzzleteil nicht das ganze Bild ist. Dann kann ich mitteilen, was mir auf dem Herzen liegt, mich beschäftigt oder ärgert. Gleichzeitig bleibe ich offen für die Puzzleteile, die mein Gegenüber bei sich trägt, und die ich vielleicht noch nicht kenne.
Wenn wir aus einer liebevollen Haltung sprechen und gerade deshalb ehrlich sind, weil uns die andere Person wichtig ist, wird sie uns am ehesten zuhören. Wenn wir zögern „unsere Wahrheit“ mitzuteilen, liegt es meistens daran, dass wir Angst davor haben, die Beziehung zu gefährden; dass die andere Person mit Wut auf unsere Perspektive reagiert oder den Kontakt gar abbricht.
Auch wenn diese schlimmsten Ängste oft nicht Wirklichkeit werden, sind sie berechtigt: Wenn wir „unsere Wahrheit“ aussprechen, besteht immer das Risiko, dass sich die Beziehung zu unserem Gegenüber verändert. Doch wenn wir sie nicht aussprechen, besteht dieses Risiko auch; wenn wir etwa so oft herunterschlucken, was wir sagen wollen, bis wir buchstäblich platzen. Oder weil wir uns innerlich immer mehr von der anderen Person distanzieren.
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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Januar/Februar 2025.
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