5. Februar 2025

Nähe lässt wachsen

Von nst5

Bernd Backhaus

Bernd Backhaus
Jahrgang 1973, leitet seit zehn Jahren die Suppenküche der Franziskaner im Berliner Bezirk Pankow. Die Betreuung der Gäste und ein offenes Ohr für die ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gehören für ihn dazu. Er ist verheiratet und Vater von zwei Kindern.

Nähe: Das Wort allein löst bereits etwas aus, etwas Warmes, Nahbares schwingt mit, auf mich wirkt es attraktiv. Vertrautheit klingt mit an, Geborgenheit, Wohlbefinden. Und die Möglichkeit zum Verschmelzen deutet sich an. Und damit möglicherweise auch die Gegenreaktion: Distanz. Abstand, den ich halten möchte, um mich vor dem Verschmolzen-Werden zu schützen.
Wir bedürfen einander, wir sind nicht geschaffen, um isoliert voneinander zu leben, sondern aufeinander bezogen. Nicht erst in der Corona-Pandemie haben wir zum Teil schmerzlich gespürt, wie sehr wir einander vermissen, wenn wir uns nicht mehr nah sein dürfen. Nähe zeigt sich im Behagen, in Gesundheit und gutem Gedeihen. Stresshormone werden abgebaut, Glückshormone ausgeschüttet und die Herzrate beruhigt sich, wenn wir wohltuende Berührung zulassen und genießen können.
Nähe bringt immer auch Austausch mit sich. Aus der Ferne kann ich die anderen wahrnehmen, vielleicht selbst noch ungesehen bleiben; in der Nähe ist das nicht mehr möglich. Im Austausch, im Gespräch teile ich mich mit, interessiere mich für den anderen, passe mich an, grenze mich ab. Und ich verändere mich mit jedem Schritt, ich wachse. In diesem Austausch geschieht das, was wir Leben nennen: Beziehungen entwickeln sich; wir gestalten sie und sie gestalten uns.
In meinem Dienst als Leiter der Suppenküche der Franziskaner in Pankow ist es auch meine Aufgabe, nahbar für Gäste, Mitarbeitende und Spender zu sein. Das verändert auch mich; seit zehn Jahren darf ich diesen Dienst nun tun und ich kann sagen, dass es mich prägt und formt. Noch mehr aber empfinde ich es als meine Aufgabe, einen Möglichkeitsraum zu öffnen und zu halten: einen Raum, in dem die Menschen sich selbst und einander nah sein können; einen sicheren Ort, der für jede da ist und an dem jeder sein kann, wie er mag – immer vorausgesetzt, er oder sie ist bereit, dies auch allen anderen zu gestatten und diesen Ort nicht zu gefährden. Ein neuer Impuls in der Suppenküche ist der Saaldienst: ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die vormittags im Saal sind, um bei den Gästen zu sein. Zuhören, wenn jemand sprechen möchte, die Zeit gut gestalten, gemeinsam spielen oder auch malen – dem Menschen nah sein, ohne ihm zu nahezukommen.
Dies ermöglicht Begegnungen, die manches Mal Gewissheiten infrage stellen und die Blasen, in denen wir uns befinden, ein wenig anpieksen. Auch bei den Besuchen von Schulklassen, von Unternehmen, die im Rahmen eines „Social Day“ Waffelbackaktionen für unsere Gäste machen, von Spendern, die sich Zeit nehmen für eine Begegnung in der Suppenküche, passiert immer etwas, nachdem sich die anfängliche Unsicherheit gelegt hat. Oft bekommen wir die Rückmeldung, dass die hier verbrachte Zeit als besonders wertvoll empfunden wird.
In der Suppenküche kommen Menschen aus den verschiedenen „Blasen“ zusammen; Vertreterinnen der verschiedenen Gesellschaftsteile dieser Stadt begegnen sich und nehmen Anteil aneinander. Diese gegenseitige Annäherung bereichert ungemein, und sie fordert heraus. Sie bewirkt, dass alle an- und miteinander wachsen und so etwas wie ein soziales Kunstwerk entsteht, das einen Mehrwert für alle Beteiligten hat.

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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Januar/Februar 2025.
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