Nähe birgt Gefahren
Carmen Bauer
Carmen Bauer
ist Heilpraktikerin und lebt in einer Fokolar-Gemeinschaft in Nürnberg. Ein gutes Verhältnis von Nähe und Abgrenzung ist ihr in allen Lebensbereichen wichtig.
Nähe bedeutet für mich, Raum zu schaffen, in dem sich mein Gegenüber wertgeschätzt, gehört und gesehen fühlt; eine Beziehung auf Augenhöhe, in der man sich ausdrücken, finden und die eigene Kreativität entwickeln kann.
Wo aber bin ich in diesem Raum? Nähe ist meines Erachtens nur dann möglich, wenn ich ich bin und bleibe und mich auf gesunde Art und Weise abgrenze. Dann erlebe ich, dass ich mich in diesem Raum entwickle, forme, ja vom anderen formen lasse.
In der Begleitung von Heranwachsenden erlebe ich beides: einerseits das Bedürfnis nach Nähe in der Hoffnung, ein offenes Ohr zu finden, und andererseits den Wunsch nach Distanz, weil es das Alter der Abgrenzung von erwachsenen Rollen ist. Ein Spiel, in dem sich Nähe und Distanz immer wieder neu definieren.
Professionelle Distanz und menschliche Nahbarkeit verlangt auch meine Beziehung zu Patienten in meiner Heilpraktiker-Praxis. Hier ist themenbezogene Begleitung gefragt, eine Beziehung in einer Dienstleistung. Häufig begegne ich Offenheit und Vertrauen, auf die ich mit menschlicher Nähe, Mitgefühl, aber auch mit Klarheit antworte.
Im Zusammenleben in einer Fokolar-Gemeinschaft bedeutet mir Nahbarkeit, nach Hause zu kommen, Raum zu haben und schenken zu können, Leben zu teilen und uns gemeinsam zu engagieren. Da geht es um Beziehungen, die sich nicht in sich selbst verschließen, sondern offen sind für andere. Eine Verbundenheit, die auch in herausfordernden Situationen Halt gibt.
In Gesprächen braucht es für mich ein Innehalten, in dem ich mich orte, mich selbst wahrnehme und versuche zu verstehen, um was geht. Betrifft es mich? Oder ist es das Thema des anderen, das ich zwar begleiten kann, aber bei der anderen Person lassen darf.
Nähe birgt auch Gefahren. Wenn Beziehungen zu nah werden, können Fehlformen entstehen. Wenn man den Fokus zu stark auf einen anderen Menschen legt und die eigenen Werte und Persönlichkeit zu sehr zurückstellt, kann es so weit kommen, dass man sich selbst verliert. Im Nahe-Sein kommt man leicht in Zugzwang, hat den Eindruck, sich aktiv für die Belange des anderen einsetzen zu müssen und geht über die eigenen Grenzen hinweg. So kommt es zu Überforderung oder zu missbräuchlichem Verhalten, egal, ob in Arbeit, Verein, Kirchen, Familien oder Gemeinschaften: Scheinbar wohltuende Nähe führt zu Abhängigkeit und Manipulation, weil man vom anderen für dessen Zwecke „benutzt“ wird, oft ohne es zu merken.
Das „Riemann-Thomas-Model“ führt uns Grundprägungen vor Augen, wie Menschen Nähe und Distanz empfinden und leben. Näheorientierte Menschen suchen Bindung, Harmonie, ein glücklich machendes Miteinander, gegenseitiges Vertrauen und menschliche Nähe. Distanzorientierte legen den Fokus auf Unabhängigkeit und Individualität, auf Abgrenzung und Freiheit. Wenn wir uns dessen bewusst sind, können wir Bedürfnisse und Ängste erkennen und verstehen, wie viel Nähe der andere möchte und verträgt.
Selbstachtsamkeit ist wie ein Kompass für eine wohltuende Nähe mit gesunder Distanz, die eine zugewandte Offenheit auf den anderen ermöglicht. Echte Nähe kann nur in einem ausgewogenen Verhältnis vom Ich zum Du, von Nähe und Distanz gelingen.
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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Januar/Februar 2025.
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