18. Juli 2017

Druck rausnehmen

Von nst5

Fast jeder jammert über zu viel Stress – von der Rentnerin bis zum Vorschüler – und hat gute Gründe dafür. Kann das auf Dauer gut gehen?

Überstunden machen, Wäsche waschen, putzen, eben das Kind zum Training fahren, noch vor Ladenschluss einkaufen: Stress gehört in den meisten Familien zum Alltag. Zeitnot, Überforderung, Aufgabenfülle bringen Hektik, setzen unter Druck, machen Angst.
Dabei ist Stress nicht grundsätzlich schlecht. Tritt er vorübergehend auf, hat er eine wichtige Funktion: Bei Gefahr setzt er den Körper in Alarmbereitschaft, steigert Wahrnehmung und Reaktionsvermögen. Auf den Alltag bezogen, macht er wach und setzt Energien frei, um schnell entscheiden oder die Leistung steigern zu können. Dauerhafter und großer Stress sind jedoch schädlich: Er schwächt die Abwehrkräfte. Das Risiko für Erkältungskrankheiten, Anspannungen bis hin zu Rückenschmerzen, Verdauungs-, Herz-Kreislauf- und psychischen Problemen wächst. Denk- und Erinnerungsvermögen sowie Entscheidungsfähigkeit nehmen ab.
Mittlerweile gehört es zum guten Ton, über Stress zu klagen. Wer stark belastet ist, muss eine gefragte Person sein. Fast wird mitleidig belächelt, wer nicht einstimmt in die Klagelitanei. Aber das Gefühl, oft überfordert zu sein, hat auch triftige Gründe. Die Anforderungen im Beruf haben zugenommen: Konkurrenz- und Kostendruck und die Erwartung, durchgehend erreichbar zu sein, sind gestiegen; Privat- und Berufsleben gehen in vielen Branchen immer stärker ineinander über. Richtig abschalten könne man nie, bemängelte der Psychologe Erhard Scholl schon 2012. „Stress ohne ein Ende in Sicht ist Gift für eine Beziehung“, warnte der damalige Vorsitzende vom Bundesverband Katholischer Ehe-, Familien- und Lebensberaterinnen und -berater im Gespräch mit der Nachrichtenagentur KNA. „Er reduziert die Fähigkeit, sich auf den anderen einzustellen. Stress erhöht die Gefahr, bei Auseinandersetzungen undifferenziert zu reagieren, zu explodieren.“ Die Belastungen nicht verdrängen, so sein Rat. Sich bewusst machen, dass der Stress einen gerade überwältigt. „Hat man das erkannt, sollte man sich kleine ‚Inseln der Ruhe’ schaffen: Während der Arbeitszeit einfach mal zwei Minuten durchatmen und sich von der Arbeit lösen – aus dem Fenster gucken und sich über den Frühling freuen. Da gibt es Methoden, die man lernen kann.“ Um der Menschen und der Beziehungen willen forderte er eine familienfreundlichere Arbeitskultur.
Der Philosoph Ralf Konersmann sieht die Ursachen unserer gestressten Gesellschaft in einem umfassenderen Zusammenhang. Er hat Unruhe als ein kulturelles Phänomen im modernen Europa ausgemacht. Die Mode, die sich von Saison zu Saison wandelt, die Hochschätzung von Flexibilität und lebenslangem Lernen, der Drang, überall Grenzen zu überschreiten, seien Ausdruck dieser Rastlosigkeit. Stillstand irritiere, sagte er in einem Interview mit dem Süddeutsche Zeitung Magazin. „Born to run“ – Geboren, um zu rennen: Dieser Titel der Autobiografie des Rockmusikers Bruce Springsteen bündele eine Sehnsucht, die das Motto der westlichen Welt sein könnte. „Wir wollen immer mehr und immer etwas anderes, sehnen uns nach Abwechslung, Veränderung, Wachstum und Fortschritt, und das so selbstverständlich, dass wir es gar nicht mehr thematisieren, obwohl die traditionellen Glücksvorstellungen eher mit Idyllen, also mit Gelassenheit und Ruhezonen zu tun haben, in denen wir nicht permanent gestört werden.“
Konersmann hält keineswegs Ruhe und Stillstand für erstrebenswert, sondern meint, die Unruhe müsse „moderiert und dosiert werden“. Es gehe um „überlegtes Handeln, geistige Entwicklung, Bedächtigkeit, Nachdenklichkeit, kombiniert mit den Möglichkeiten der Unruhe, des Gestalten-Könnens, des weitsichtigen Handelns.“
Familie in ihren vielfältigen Formen kann beides sein: Raum des Rückzugs, der Geborgenheit und Entspannung wie auch der Spannungen und Auseinandersetzungen. Unausgesprochene Erwartungen untereinander und Anforderungen von außen kommen hier zusammen. Jeder trägt auf seine Weise die Unruhe der Gesellschaft hinein. Das kann die Beziehungen gefährden. Arbeitslosigkeit, ein Pflegefall, finanzielle Probleme können zusätzlich an Kräften und Nerven zehren. Zwischen den beiden Polen Individuum und Gemeinschaft spielt sich das Familienleben ab, entwickeln sich Persönlichkeit und Gemeinschaftsfähigkeit. Gerade für Teenager in der Pubertät sind die familiären Beziehungen ein wichtiger Rückhalt: ein Übungsfeld, um mit dem „Umbau“ in ihrem Körper, Gefühlsschwankungen, ihren Grenzen, mit Konflikten zurechtzukommen. Wenn ihre Eltern und Geschwister, dadurch freilich selbst stark herausgefordert, nicht Schutzraum und Reibungsfläche zugleich für sie bieten, wo sollen sie sonst lernen, mit Stress fertigzuwerden?

Wie ihn verringern oder gar vermeiden? Einige Vorschläge sind hier zusammengetragen:
Darüber sprechen. Sich bewusst werden und einander mitteilen, was den Einzelnen stresst. Bei andauerndem Druck ist das regelmäßig sinnvoll: im Gespräch zu zweit oder einer Familienkonferenz. Für eine ungestörte Atmosphäre Fernseher und Handys ausschalten.
Sich Zeit nehmen. Zeit einplanen für Gespräch, gemeinsame Unternehmungen, Entspannung.
Organisieren. Um viele Bedürfnisse und Aufgaben koordinieren zu können, helfen Absprachen, die dann auch alle einhalten müssen. Aufgaben verteilen. Wochenpläne und To-Do-Listen dienen dazu, den Überblick zu behalten und nichts zu vergessen.
Ansprüche überprüfen. Sind die eigenen Anforderungen und Erwartungen an sich und die anderen übertrieben? Glauben wir, Normen erfüllen zu müssen, die andere an uns herantragen? Barmherzigkeit walten lassen. Niemand muss perfekt sein. Viele Eltern fürchten, ihrer Rolle als Vater oder Mutter nicht zu genügen. Dennoch halten die meisten Kinder ihre Eltern für die besten der Welt.
Verringern. Zusammen entscheiden, auf welche Termine, Aufgaben, Aktivitäten verzichtet werden kann. Prioritäten setzen.
Unterstützung holen. Wenn die Überforderung anhält, sich nicht scheuen, im Bekanntenkreis oder professionell Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Clemens Behr

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juli/August 2017)
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