2. Juni 2021

Was hält, wenn nichts mehr hält?

Von nst5

Pandemie. Kirche. Gesellschaft. Unsere Welt ist im Wandel.

Auch Gott scheint immer mehr an Bedeutung zu verlieren.

Krisenzeiten sind immer Zeiten der Selbstvergewisserung. Das gilt für Einzelne genauso wie für Gruppen und ganze Gesellschaften. Wer den Weg vor sich nicht klar sehen kann, der erinnert sich: Wohin war ich aufgebrochen? Was sichert meinen Weg? Und über welche Alternativen komme ich jetzt zum Ziel?
Es lohnt sich, sich diesen Zusammenhang für die allgemeine Herausforderung unserer Gegenwart vor Augen zu führen. Denn dann wird einsichtig, dass die kulturelle Lage im Moment von weit mehr Herausforderungen geprägt ist, als man auf den ersten Blick denken könnte. Diese Reflexion ist gerade für Christinnen und Christen alles andere als bequem, wie sich zeigen wird.
Ich möchte von Herausforderungen auf drei Ebenen sprechen. Die primäre Ebene ist (zunächst) die naheliegendste: Corona und Co. Die Pandemie ist für uns alle überfordernd. Und in ihrem Gefolge eskalieren weitere komplexe Gefährdungslagen: der Welthandel, die Armut, der Klimaschutz.
Wir kennen solche Aufzählungen, und sie können einen lähmen. Es wäre bereichernd, sich die Widerstandsstrategien zu erzählen, mit denen wir alle versuchen, auf der einen Seite wache Zeitgenossinnen und
-genossen auf der Höhe der Herausforderung und auf der anderen Seite trotzdem wenigstens im eigenen Nahbereich handlungsfähig zu bleiben. Ich beobachte mich jedenfalls dabei, wie ich regelmäßig weggucke, weil ich es nicht aushalte, mir alle Not und Verschlungenheit der Probleme dauernd gegenwärtig zu machen. Ich weiß schlicht keinen anderen Weg.
Das ist die Ebene erster Ordnung, die der direkten Probleme. Ich denke, sie ist gut bekannt.
Als Ebene zweiter Ordnung bezeichne ich nun die Mittel, mit denen wir normalerweise unsere mentale Balance herstellen. Was ist es, das uns inspiriert? Tröstet? Handlungs- und widerstandsfähig macht? Positiv bleiben lässt? Für viele ist es ihr Glaube, ihre Weltanschauung, ihre schlichte Lebensweisheit. Für Christinnen und Christen ist es zusätzlich ihr Vorbild Jesus von Nazaret, dem sie nacheifern und nachfolgen. Vermittelt wird ihnen dieser Jesus als der Christus über ihre Kirche.

Kompass ohne Orientierung… – Illustration:
(c) Freepik.com, bearbeitet von elfgenpick

Orientierungslos
Nun kommt hinzu: Auch der Blick auf die Kirche – ich spreche hier über die katholische Kirche – führt im Moment hierzulande nicht zu Freude und Hoffnung. Vor Ort mag es anders sein. Und das sei jeder und jedem gewünscht, dass sie/er ausstrahlungsstarke Gemeinden, authentische Seelsorgerinnen und Seelsorger, starke Diakonie und beflügelnde Liturgien erlebt. Schaut man aber deutschlandweit, ist man verstört. Auf der Ebene der (Erz-)Bistümer und des Vatikan erblickt man eine Institution im freien Fall: Machtmissbrauch, Vertuschung, Unfähigkeit der Verwaltung, gegenseitiges Misstrauen, vieles mehr. Austrittswellen sind die Folge. Für viele heißt es: Nur raus aus diesem Laden. Der „Synodale Weg“ ist meiner Meinung nach genau der richtige Hebel, um endlich aufzuräumen und wirksame Reformen zu vereinbaren. Aber wie wir in den letzten Monaten sehen können: Genau dieser Weg wird von den vatikanischen Behörden diskreditiert; in autoritärem Stil werden den deutschen Bischöfen ganz unpassende Instruktionen verordnet; die diplomatischen Beziehungen scheinen auf dem Tiefpunkt zu sein.
Soll heißen: Wir fahren ohnehin nur auf Sicht (Probleme erster Ordnung); und unser sonst immer nützlicher Kompass hat jetzt auch selber keine Orientierung (Problem zweiter Ordnung).
Diese Doppelebene wäre an sich bereits genug. Doch mein Eindruck ist, dass es noch eine dritte Ebene gibt. Diese steigert die Unsicherheit um ein weiteres Level. Um im Bild zu bleiben: Normalerweise benutzen wir einen Kompass als Werkzeug und Schutz vor dem Verlaufen. Dieser richtet sich an einer Größe aus, die immer konstant bleibt und die nicht irren kann, dem magnetischen Nordpol.
Auf unsere allgemeine Weltorientierung hin kann man das Bild übertragen: Für viele, die gegenwärtig in ihrer Religiosität Kraft und Hilfe finden, ist es der Glaube an Gott, der sie auch dazu befähigt, eine kriselnde Kirche zu überstehen; ihr vielleicht sogar gerade deswegen wieder aufzuhelfen, weil sie sich von ihrem Versagen nicht abhängig gemacht haben. Ihr Gott ist ihnen ihr magnetischer Nordpol, auf den die Kompassnadel ihres Lebens ausgerichtet ist.
Nun ist Gott nicht naturwissenschaftlich exakt; die Gottessicherheit ist gebunden an unser gemeinsames Erkennen, Erfahren und Erzählen. Und schon deswegen ist es alles andere als harmlos, dass die Kirche im Moment so verunsichernd ist. Man muss es so hart ausdrücken, meine ich: Für ganz viele ist es die Kirche selbst, die ihrem Gottesfinden so stark im Weg steht, dass sie sich mit kleineren (aber eben erreichbaren) Sinnoptionen begnügen.
Dazu kommen die bereits erprobten, aber immer drängenderen Bestreitungen Gottes im Bereich der Naturwissenschaft, der Technik, der Moralphilosophie oder der Religionssoziologie. Man braucht Gott nicht mehr zur kausalen Erklärung der Natur oder zur Letztbegründung von Moral in modernen Gesellschaften.

Abwesenheit Gottes
Soll heißen: Der ganze ‚Nordpol des Glaubens‘ ist in Bewegung – und damit unser Kompass und unsere Wegführung. Die Fokolar-Bewegung hat dieser dritten Ebene neulich einen ganzen Kongress gewidmet. 2 Und sie hat sich der radikalen biblischen Einsicht gestellt, dass Gott selbst immer wieder die Beziehung zu den Menschen neu definiert. Es gibt Zeiten, in denen er sich nicht mehr mit den Mitteln auffindbar macht, die man bisher kannte. Man kennt das aus den Osterevangelien, dass die Jünger den Auferstandenen zunächst überhaupt nicht erkannten. Die großen Mystiker des 20. Jahrhunderts – Madeleine Delbrêl, Dietrich Bonhoeffer, Mutter Teresa, Chiara Lubich – umkreisen diese von ihnen so erfahrene Abwesenheit Gottes. Gott zieht sich demnach zurück. Er verändert den Modus seiner Anwesenheit so, dass er uns oft abwesend vorkommt. Offenbar will er, dass wir ihn anders suchen und anderswo finden, als wir es bisher gewohnt sind.
Fassen wir zusammen, diesmal von hinten nach vorn: Der Nordpol des christlichen Glaubens wechselt seinen Standort; die Kompassnadel muss sich neu finden; der Weg vor uns muss gegangen werden, und das ohne letzte Sicherheiten.
Das bewegt mich. Mehr als sonst (und nicht nur als Kirche) sollten wir in einen Synodalen Weg eintreten: über das, wie wir aktuelle Fragen lösen können (erste Ordnung); welche Mittel uns orientieren (zweite Ordnung); und woran man sich hält, wenn nichts anderes mehr hält (dritte Ordnung).

Matthias Sellmann 1
ist Professor für Pastoraltheologie an der Ruhr-Universität Bochum; Gründer und Leiter des „Zentrums für angewandte Pastoralforschung“
2 „Was und wie, wenn ohne Gott“, Online-Kongress am 26./27. Februar 2021. Ein Bericht und alle Vorträge zum Nachhören auf www.fokolar-bewegung.de/nachrichten/gottsucher-zwischen-mystik-und-missbrauch

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai/Juni 2021)
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