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5. April 2022

Die Brücke in mir bauen

Von nst5

Der Umgang mit Corona

treibt oft Keile in Familien und Freundeskreise. Kann es sein, dass die wichtigste Frage nicht ist, wer recht hat? Ein persönlicher Einblick.

Mein Geburtstag steht vor der Tür – und es ist Corona. Immer noch, jetzt schon zwei Jahre lang, und ich bin langsam müde. Ich bin über 50, gehöre also schon zu der Altersgruppe, die wahrscheinlich mit größeren Problemen bei einer Corona-Erkrankung rechnen muss. Und ich bin dreifach geimpft – mehr kann ich nicht tun, für mich und für die anderen auch. Ich kenne Freunde, die erkrankt sind an diesem Virus, auch einen Kollegen, der daran gestorben ist – aber ich habe keine Angst, warum auch immer.
Also überlege ich, wen ich zum Geburtstag einlade. Nach einigem Hin und Her entscheide ich mich für eine kleine Feier: Meine beste Freundin mit ihrem Mann soll eingeladen werden und eine neue Freundin mit Mann hier am Ort. Wir sind also insgesamt sechs Personen. Ein einfaches, gutes Abendessen mit Wein und viel Gespräch.
Ich lade also beide Ehepaare nacheinander ein. Zuerst meine beste Freundin, Anne. Ich weiß, dass sie ungeimpft ist, aber das ist für mich nicht wichtig. Es ist ihre Entscheidung, sie hat sie für sich und alle anderen in ihrem Umfeld gut abgewogen, und das akzeptiere ich.
Voller Freude sagt sie mir zu und die Freude springt über; ich freue mich, wenn sie kommt.
Danach lade ich Diana mit ihrem Mann ein. Diana ist Krankenschwester und Pain Nurse, begleitet also Schmerzpatienten, und liebt ihren Beruf sehr. Ihr Mann ist Elektriker und ein sehr empathischer Mensch. Wir mögen beide sehr.
Soll ich ihr mitteilen, dass die andere Freundin, das andere „Gast-Ehepaar“ ungeimpft ist? Ein wenig überlege ich hin und her, dann entscheide ich mich für Klarheit und Transparenz. Ich teile Diana am Telefon mit, dass meine andere Freundin ungeimpft ist und dass wir uns alle vorher testen lassen. Das erscheint mir für uns alle sinnvoll.
Sie nimmt meine Einladung entgegen, freut sich und bedingt sich Zeit für die Klärung mit der Familie aus.
Ich warte ein, dann zwei Tage auf ihre Antwort. Das ist ungewöhnlich, denn normalerweise ist Diana spontan und schnell in ihren Entschlüssen, also komme ich ein wenig ins Grübeln.
Ich kann mir vorstellen, dass die Situation für sie nicht so einfach ist wie für mich: Sie kennt meine Freundin Anne nicht, sie ist Krankenschwester aus Leidenschaft, um einiges jünger als ich, geimpft und geboostert – und das aus voller Überzeugung.
Sie hat mir vor einigen Monaten erzählt, dass sie Patienten an Corona erkranken und auch sterben sah. Aber sie hat immer betont, dass alle an Corona Verstorbenen schwere Vorerkrankungen hatten. Und dass es nie zu dem Engpass in ihrer Klinik kam, den alle befürchtet hatten.

Alles in mir wehrt sich.
Endlich kommt ihre Antwort per WhatsApp. Ich lese sie, einmal, zweimal und erst dann verstehe ich wirklich. Sie sagt mir ab. Ich muss schlucken, mein Herz klopft schneller.

„Liebe Andrea, wir würden gerne mit euch feiern. Dein Auflauf klingt verführerisch. Wir entscheiden uns trotzdem dagegen. Für mich ist es momentan undenkbar, mit ungeimpften, wenn auch getesteten Menschen auf engem Raum zusammen zu sein. Ich weiß, du verstehst es.“
Für mich ist das zuerst einmal ein Schlag in die Magengegend. Alles in mir wehrt sich, ich möchte antworten, dass ich dafür kein Verständnis habe.
Sie, Diana, soll doch Verständnis haben – und Toleranz. Sie ist doch geimpft, was soll da passieren. Sie ist doch geschützt durch die Impfung!
„Angepasster Angsthase“ ist mein nächster Gedanke. Ich bin gekränkt und fühle mich – vor allem für meine Freundin – ausgegrenzt.
Ich kann nicht sofort antworten. Ich brauche einen weiteren Tag, bevor ich schreibe: „Liebe Diana, ja, das ist sehr schade. Aber ich verstehe es. Danke für deine Antwort.“
Doch wenn ich ehrlich bin: Ich verstehe es nicht. Es ärgert mich. Es kränkt mich. Ich fange an zu urteilen.

Den Abgrund, den Riss zunächst in sich selbst erkennen. – Illustration: (c) iStock (Olena Agapova, bearbeitet von elfgenpick)

Jetzt bin ich genau in der Situation, die ich doch eigentlich schrecklich finde: dass es auch in Freundschaften nur noch wenig echtes Verstehen gibt; dass sich Gräben auftun in Familien- und Freundeskreisen, wenn man die Dinge verschieden sieht. Ich möchte so gerne Brücken bauen!
Aber ich erkenne, dass ich nicht besser bin, dass ich zuerst einmal bei mir beginnen muss: Ich muss in mir die Gräben überbrücken, nicht urteilen, dem anderen kein Etikett aufdrücken.
Diana meldet sich nach meiner Antwort nicht mehr. Ich melde mich auch nicht. Aber es arbeitet in mir – und dabei hatte ich doch gedacht, ich bin schon weiter, reifer als die anderen.

Der Riss gehört zu mir.
Aber mancher Prozess braucht eben seine Zeit. Ich brauche meine Zeit.
Ich begreife, dass ich den Abgrund zuerst einmal in mir erkennen muss. Meinen Abgrund, meinen Riss und den der anderen. Und dann darf ich diesen Riss annehmen, denn er gehört zu mir.
Vor einiger Zeit habe ich verstanden und akzeptiert, dass Wunden zum Leben gehören, Risse, Abgründe und dass sie mich menschlich machen und barmherzig den anderen gegenüber. Und ich habe verstanden, dass ich in diesem Schmerz nicht verloren bin, sondern dass auch Gott sich in diesen Abgrund begeben hat – damit ich nicht alleine bin und mich geliebt weiß.
Nur mit diesem Wissen, mit diesem Glauben kann ich die Brücke in mir bauen: Diele für Diele. Meter für Meter. Schritt für Schritt. Und dann muss ich sie überqueren, meine Brücke zum anderen, mit Gott an meiner Seite. Über den Fluss meiner Gekränktheit, meiner Urteile und meiner eigenen Wahrheit hinweg. Langsam. Tastend. Ins Ungewisse.
Ein paar Tage später will ich meine Freundin Diana anrufen. Sie kommt mir zuvor, ich sehe ihre Nummer auf dem Display. Soll ich abnehmen? Bin ich schon so weit?
Innerlich zittere ich ein wenig, ich nehme ab und höre ihre Stimme. Diana ist wie immer, fröhlich und spontan. Ob wir morgen zusammen Langlaufen gehen, sie habe frei und würde so gerne rausgehen.
Ich sage zu und plötzlich erzählt sie mir mehr. Dass es im Krankenhaus zurzeit besonders anstrengend ist, und dass sie kein Verständnis für ungeimpfte Pflegekräfte aufbringen kann. Dass sie ihre Impfung als Beitrag sieht, auch für andere.
Jetzt verstehe ich sie besser. Ihre Gedanken. Ihre Werte. Ihre Belastung.
Aber ich verstehe auch die Sichtweise meiner Freundin Anne, die mit gleichen Werten eine andere Entscheidung getroffen hat. In Gott und in der Wirklichkeit können Widersprüche nebeneinanderstehen. Schwer zu verstehen, aber möglich.
Vor dem Einschlafen geht mir ein Gedanke durch den Kopf: Wie eng ist doch meine eigene Sichtweise, mein eigenes Herz, wenn da nicht andere, der Bruder und die Schwester sind, die mein Herz weiten.
Andrea Hendrich

Andrea Hendrich ist Familientherapeutin und lebt mit ihrer Familie in Tutzing. Sie nimmt wahr, dass Spaltungen in Freundschaften und Familien wachsen, weil Verschiedenheit zur Mauer wird, an die sie gerne Leitern anlehnen würde.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, März/April 2022)
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