Erwartungen
Krieg, Bürgerkrieg ist im schlimmsten Fall das Ergebnis, wenn eine Gesellschaft auseinanderbricht: eine Gruppe gegen die andere, Verletzte, Tote. Welche Folgen das hat, wirtschaftlich, psychisch, über Jahre, Jahrzehnte! Syrien, Zentralafrika, immer mehr auch wieder Burundi – Beispiele finden wir leider genug. Uns geht es gut. Aber gibt es auch bei uns Anzeichen, dass die Gesellschaft auseinanderdriftet? Darüber haben wir mit Kai Unzicker gesprochen, der den gesellschaftlichen Zusammenhalt in vielen Ländern beobachtet und untersucht: Was ist der Kitt, der eine Gesellschaft im Innersten zusammenhält?
Wir stellen wir kurz ein Projekt vor, mit dem eine Künstlerin und ein Künstler durch die Städte ziehen. Sie wollen damit Christen, Juden und Muslime enger miteinander verbinden. Womit – wollten wir von Herrn Unzicker wissen – lässt sich der Zusammenhalt in der Gesellschaft noch stärken?
Barmherzig sein, das klingt etwas verstaubt. Der Begriff ist wenig gebräuchlich, so dass sich mancher fragt: Was ist damit eigentlich gemeint? Barmherzigkeit ist eine Eigenschaft, auf die Papst Franziskus eigens mit einem „heiligen Jahr“ aufmerksam macht, die aber darüberhinaus auch bei den Juden, Muslimen, Buddhisten, Bahai und Hindu eine große Bedeutung hat. Wir haben verschiedene Menschen gefragt, was sie darunter verstehen und wo sie barmherzig sind. Sicher sind die Antworten nicht erschöpfend; sicher hat das Thema noch viel mehr Facetten. Vielleicht finden Sie dennoch in den Gedanken und Beispielen – und in diesen Zeilen von Chiara Lubich – Anregungen für einen neuen Zugang zur Barmherzigkeit.
Rebecca und Cornelius haben erst vor einigen Monaten geheiratet. Sie vertrauen uns an, wie es dazu gekommen und wie es ihnen in den ersten Wochen ihrer Ehe ergangen ist. Ernsthaft gefährdet war der Zusammenhalt zwischen ihnen noch nicht, aber die beiden wissen auch, dass sie ihre Beziehung bewusst pflegen müssen, damit sie hält und wächst.
Im Kleinen wie im Großen haben wir in unserer Gesellschaft hohe Erwartungen – an uns selbst und an die anderen: Sie betreffen das Aussehen; die Aufgaben zu Hause, im Beruf, im Verein, in der Kirche, in der Politik; die sozialen Rollen; die zu erbringenden Leistungen. Wir wollen Perfektion. Für Schwächen und Fehler ist da wenig Platz; Macken und Ausrutscher werden nicht zugelassen. Sie werden erbarmungslos verfolgt, verhöhnt, vernichtet, als wären sie nicht menschlich. Auch durch „Shitstorms“, die anonymen, lawinenartigen Hetzkritiken in sozialen Netzwerken, oder „Bashings“, wütende, öffentliche Beschimpfungen. Da fehlt es an Barmherzigkeit. Schwächen und Fehler gehören zum Menschsein dazu. Die Reaktionen sind oft das, was unmenschlich, untermenschlich ist!
Gründe genug, mir für 2016 mehr Barmherzigkeit zu wünschen. Das täte auch dem Zusammenhalt in unserer Gesellschaft gut. Und mein Vorsatz für das neue Jahr wäre damit auch schon klar…
Ihr
Clemens Behr
(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Januar/Februar 2016)
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