18. März 2020

Scheitern als Chance?

Von nst5

Versagen, Fiasko, Desaster: Kündigt sich das an? Wie wieder herauskommen? Oder geht es darum, dass Beste daraus zu machen? Fragen an Stefan Hund, Klinikseelsorger und Moderator der „Fuckup Night “(1) in Darmstadt.

In vielen Städten sprießen sogenannte „Fuckup Nights“ aus dem Boden, wo Menschen vor Publikum von ihrem Scheitern erzählen. Ist Versagen jetzt nicht mehr tabu?
Doch, in unserer Gesellschaft schon. Das liegt vielleicht auch daran: Wenn jemand bei uns als Unternehmer wirtschaftlich scheitert, hat das eine größere Auswirkung als beispielsweise in den USA; denn dann drohen Privatinsolvenz und gesellschaftliche Diskriminierung. US-Unternehmen achten bei der Einstellung einer Führungsperson sogar auf Scheiter-Erfahrungen in ihrem Lebenslauf. Denn sie soll ja den Kunden oder der Firma Probleme lösen helfen. Und Fehler und Tiefschläge durchzustehen, verschafft Problemlösungskompetenzen.

Warum fürchten wir uns davor zu versagen?
Es ist schmerzhaft bis ins Körperliche hinein. Nicht nur für das Ego, es hat ja auch Folgen für andere: Im beruflichen Bereich muss das Unternehmen wahrscheinlich Umsatzeinbußen einstecken und Mitarbeiter entlassen. Im privaten Umfeld, wenn es zu einer Trennung kommt, ist zu klären: Was wird aus den Kindern? Wie mit dem ehemaligen Partner umgehen? Man hat vieles investiert, Geld, Zeit, Emotionen reingesteckt und schreckt davor zurück, dass alles vergeblich gewesen sein soll. Scheitern ist nichts Schönes. Das sucht sich niemand aus.

Letzten November haben Sie die erste „Fuckup Night“ in Darmstadt geleitet. Wovon haben die Referenten erzählt?
Es geht nicht nur um Scheitern. Ich spreche gern von „Stunde Null-Momenten“. Wir hatten drei Speaker: Sonja Kreye ist früher für die „Formel 1“ um die Welt gejettet. Dann bekam sie ein Kind, hat das Jetset-Leben an den Nagel gehängt und sich neu erfunden: Sie berät jetzt von zu Hause aus Coaches. Bert Overlack hat ein weltmarktführendes Unternehmen der Holzindustrie geleitet, bis er Insolvenz anmelden musste. Die Frage seines Sohnes, warum er denn gar nicht mehr lächle, holte ihn aus der Krise und leitete einen Wendepunkt ein. Sabine Eller war erfolgreich Frauenbeauftragte einer Großstadt. Ein zweites berufliches Thema beschäftigte sie seit ihrer Jugend. Vor sieben Jahren stieg sie aus und gründete ein Bestattungsinstitut mit einem besonderen Konzept. Sie wurde mit dem Hessischen Gründerpreis ausgezeichnet.
Diese Menschen konnten ihrem Leben eine neue Richtung geben und erzählen davon, um anderen Mut zu machen. Sie sind schon durch den Veränderungsprozess hindurch. Mittendrin ist es wie in einem Strudel: Man hat keine Zeit zum Erzählen, sondern muss erst mal überhaupt Luft kriegen.

Kündigen sich Krisen an? Gibt es Warnsignale?
Ja, wirtschaftlich genauso wie körperlich. Neulich hat mir jemand erzählt, dass er wegen Rückenproblemen beim Arzt war. Der hat Anzeichen für drei nicht beachtete Bandscheibenvorfälle entdeckt. Der Patient hatte also alle Schmerzen ignoriert, bis es nicht mehr ging. Missachten wir die Signale, kommen sie irgendwann mit größerer Wucht zurück. Aber: Will man sie wahrnehmen und an sich heranlassen? Möchte man sie bewusst angehen? Will man den Preis zahlen?

Und wie kann man dann damit fertig werden?
Das erste ist die Prävention. Nehmen Sie sich einmal im Jahr eine Auszeit. Schauen Sie sich mit einem Begleiter Ihre Situation an und reflektieren Sie sie. In der Regel zeigen sich Hinweise, wo etwas nicht klappt oder in Richtung einer Veränderung läuft. Je mehr dranhängt, desto stärker würde ich professionelle Begleitung suchen. Dem eigenen Partner die Situation in der Firma dreißigmal zu erzählen, bringt nichts: Der kann es bald nicht mehr hören. Außenstehende, vor allem Experten, können Fragen stellen und Dinge auf den Schmerzpunkt hin ansprechen, was bei zu nahe Stehenden oft nicht möglich ist.

Sie haben selbst „Stunde Null-Momente“ erlebt. Wie haben Sie dabei verstanden, was für Sie das Richtige ist?
Ja, es gibt einige. Wenn ich in existenzielle Krisen geraten bin, habe ich sie immer als Herausforderungen aufgefasst, um mich neu aufzustellen. Dabei haben auch Schweigeexerzitien eine wichtige Rolle gespielt. Dann ist die Frage: Kann ich mich neu aus- und aufrichten oder bleibe ich liegen? – Manchmal geht einfach eine Phase zu Ende und es wird Zeit für etwas Neues.

Darin stecken also Chancen zu reifen und zu sich selbst zu finden?
Auf jeden Fall. Ich bin ein anderer als noch vor zwanzig Jahren; das ist eine menschliche Grunderfahrung. Überraschende Entwicklungen aus Scheiter-Erlebnissen finde ich auch im biblischen Kontext: Petrus, der vor lauter Angst Jesus verrät, als der verhaftet wurde. Dabei hatte er Jesus versprochen, ihn nie zu verleugnen, selbst wenn er sterben müsste.(2) Nachher reut es ihn zutiefst. Das ist seine Stunde Null, die ihn offenbar wachsen lässt. Denn später baut er Gemeinden auf und leitet sie. „Du bist Petrus und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen“(3), sagt Jesus zu ihm.
Religionskritiker sagen sogar, das Christentum sei die Religion eines Gescheiterten: Jesus habe versagt, weil er am Kreuz endete. Wenn ich nur nach menschlichen Maßstäben urteile, haben sie recht. Anders, wenn ich sehe, dass Karfreitag und Ostern, der Tod von Jesus und seine Auferstehung zusammengehören.
Scheitern ermöglicht, dass etwas ganz Neues entsteht. Daraus lässt sich aber nicht ableiten, dass wir es bewusst suchen sollten. Dann wird es nicht funktionieren. Eine Stunde Null fällt einem zu! Die Frage ist: Sehen wir darin die Chance? Rechnen wir mit einer „Auferstehung“? Ein ehemaliger Chef der Deutschen Börse arbeitet heute als Physiotherapeut. Oder Boris Grundel, ein Spitzensportler, hat sich bei einem Sprung von den Klippen in Mittelamerika die Halswirbel gebrochen und ist im Rollstuhl wieder aufgewacht. Heute ist er Managementtrainer und Rollstuhlsportler: Er sagt in einem seiner Bücher sogar, dass er dankbar über diesen Schnitt in seinem Leben sei.

Sie sprechen auch vom „Phönix-Moment“: der Asche entsteigt etwas Neues.
Meine Vergangenheit nehme ich immer mit. Aber ich kann sie verwandeln, transformieren. Von der Hülle her bin ich immer noch der gleiche Mensch, aber innerlich habe ich eine Veränderung durchgemacht. Da passt das Alte nicht mehr.
Ein Ergebnis wäre, Gewohntes gegen Neues auszutauschen. Oder ich setze neue Prioritäten, mit wem oder was ich Zeit verbringe, Geld und Ressourcen einsetze. Wieder andere verlegen ihren Lebensmittelpunkt vom Landesinneren ans Meer. Bei den „Fuckup Nights“ bekomme ich Anstöße durch das Beispiel anderer: Wie ist es ihnen beruflich und persönlich ergangen, als sie die Insolvenz vor der Nase hatten? Wie sind sie damit umgegangen? Jeder muss herausfinden, was für ihn passt.

Sie sind Klinikseelsorger. Inwiefern können Krankheiten Signale sein, dass etwas schief läuft?
Ich bin kein Arzt. Aber ich mache die Erfahrung, dass gesundheitliche Themen mit seelischen Zuständen zusammenhängen. Menschen, die viele Probleme in sich reinfressen, erlebe ich häufig mit Magen- oder Darmkrebs. Wer an einer Skoliose, einer Wirbelsäulenverdrehung leidet, hat möglichweise keinen festen Standpunkt.
So kehren sich innere Probleme nach außen, wollen Beachtung finden. Viele Patienten kommen in den Seelsorgegesprächen von selbst darauf, dass ihr gesundheitlicher Zustand eine bestimmte Situation in ihrem Leben widerspiegelt. Hörsturz-Patienten wird klar: Sie können es nicht mehr hören, dass sie permanent Ja sagen, wo sie eigentlich Nein meinen. Nachdem wir das herausgearbeitet hatten, kam auch der ärztliche Heilungsprozess voran. Aus meiner Sicht ist ein Burn-out ein Infarkt der Seele: Etwas ist verstopft, nichts geht mehr hindurch.

Und die Moral von der Geschicht?
Der Körper, das Schicksal, Gott weist uns auf Brüche hin, damit wir etwas verändern können. Nur wenn ich von den eingetretenen Wegen abweiche, werde ich eine Entwicklung durchmachen. Wie ist in Rheinhessen der Eiswein entstanden? Man erzählt sich, dass man immer einen Reiter zur Lese schickte. Dieser Reiter hat dann im Gasthaus verpennt. In der Nacht wurde es eiskalt. Später bemerkte er, dass der trotz des Frostes nun gewonnene Wein besser als sonst schmeckte.
Manchmal braucht es den Mut, Fehler zuzulassen, damit sich etwas Neues entwickeln kann. Ich lerne daraus, Vertrauen in Gott zu haben: Ich werde geführt, auch wenn ich auf schwierigen Wegen unterwegs bin. Wir stehen in vielen existenziellen Veränderungsprozessen – Digitalisierung, Künstliche Intelligenz – wenn wir dafür mit unseren eingefahrenen Ansätzen nach Lösungen suchen, werden wir die Probleme maximal vergrößern.
Ich möchte Mut machen, Risiken einzugehen. Ja, wir können scheitern! Aber Scheitern hilft, uns weiterzuentwickeln. Auch wenn wir Angst davor haben, wenn es in dem Moment selbst kein Segeln in der Sonne ist: Dadurch kann und wird – aktiv angegangen – Schöneres zum Vorschein kommen.

Herzlichen Dank für das Gespräch!
Clemens Behr

Foto: (c) Marc Fippel

Stefan Hund,
Jahrgang 1964, hat Evangelische Theologie, Psychologie und Pädagogik studiert sowie eine kaufmännische Ausbildung abgeschlossen. Mehrmals musste er sich beruflich neu orientieren. Dabei war er im kirchlichen Umfeld wie auch in der freien Wirtschaft tätig. Seine Erfahrungen gibt er im Coaching an Unternehmer und Führungskräfte weiter, in Podcasts, bei Schweigeseminaren und als Moderator der „ Fuckup Nights “ in Darmstadt – die nächste findet am 27. April statt. Seit 2015 ist Stefan Hund Klinikpfarrer (mit halber Stelle) in Darmstadt. Er lebt in einer Patchwork-Familie.

www.stefanhund.com
www.StundeNull-Talk.com

(1) Mehr zu den „Fuckup Nights“
(2) Vgl. Matthäus 26,35
(3) Matthäus 16,18

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, März/April 2020)
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