5. Februar 2025

Beglückend und erschreckend

Von nst5

Nähe ist lebenswichtig und kann leicht missbraucht werden.

Wer sich entscheidet, sie zu leben, riskiert, verletzt zu werden und zu verletzen. Warum es sich trotzdem lohnt.

Wer sich mit einem Thema befasst, hat oft den Eindruck, nun überall darauf zu stoßen. So ging es auch mir beim Thema Nähe: Politiker und Parteien beanspruchen für sich „Volksnähe“; Interessensvertretungen begründen Forderungen und Argumentationen damit, dass sie „nah dran“ sind – am Thema, an einer Personengruppe, am Problem; Kirchen, Orden und caritative Einrichtungen wollen die „Nähe Gottes“ vermitteln und suchen Haupt- und Ehrenamtliche, die „nahe bei den Menschen“ sein wollen; andere erklären ihr Dasein, „weil Nähe zählt“.
Nähe ist gesellschaftlich ein Thema. Auch, weil die Corona-Pandemie uns eindrücklich vor Augen geführt hat, was passiert, wenn sie erschwert oder unmöglich ist. An den Folgen haben wir psychologisch, soziologisch und politisch wohl noch lange zu knabbern. Die Weltgesundheitsorganisation WHO stuft „Einsamkeit“ inzwischen als gesundheitlichen Risikofaktor ein. Gefühle des Allein-gelassen-Seins haben aber auch gesellschaftliche Auswirkungen: Wer einsam ist, driftet leichter ab in problematische Denk- und Verhaltensweisen.
Wir Menschen sind Beziehungswesen. Nähe ist Wesenskennzeichen und Voraussetzung für unsere Entwicklung in allen Altersstufen – vom Säugling bis ins hohe Alter. Wo menschliche Nähe und Zuwendung fehlen, kann Leben nicht gedeihen. Aber in allen Entwicklungsstufen streben wir auch immer nach Freiheit und Selbstbestimmung. Das geht nur mit Distanz. Und was passiert, wenn Menschen sich zu nah kommen, einander den Freiraum nehmen und übergriffig werden, haben uns vor allem die von Missbrauch Betroffenen vor Augen geführt, die sich in den letzten Jahren mutig zu Wort gemeldet haben.
Nähe ist so wichtig und kann doch so leicht missbraucht werden. Sie verlangt größte Achtung, Wertschätzung, Respekt. Nähe darf nicht vereinnahmen und mit Erwartungen überfrachten, schon erst recht nicht zum Mittel der Selbstbestätigung oder der Kontrolle werden. Es braucht Augenhöhe in der Beziehung. Wo dies nicht geachtet wird und noch dazu ein Machtverhältnis vorliegt, ist die Gefahr groß, dass die Würde der Person verletzt wird.
Jeder Mensch hat einen persönlichen „Wohlfühl-Raum“. Wissenschaftler sprechen von Distanzzonen, die bezeichnen, wie nahe wir andere Menschen an uns heranlassen und uns damit wohlfühlen. Die intime Distanz reicht bis zu 45 cm; ihr folgen die persönliche Distanz (zwischen 45 bis 100 cm), dann die soziale (100 bis 360 cm) und schließlich – ab etwa 360 cm – die öffentliche Distanz. Generell gilt: Je vertrauter das Verhältnis, desto näher lassen wir andere auch räumlich an uns heran. Diese Distanzzonen haben eine gewisse Allgemeingültigkeit: Nichtsdestotrotz hängt der persönliche „Wohlfühl-Raum“ darüber hinaus von persönlichen Erlebnissen, familiärer Prägung und kulturellen Einflüssen ab.
Nähe und Distanz gehören zusammen. Sie müssen von jedem und jeder immer wieder neu ausgelotet werden, je nach Beziehung, Rolle, Aufgabe, Bereich, Ort, Zeit und der eigenen Befindlichkeit. Das betrifft körperliche Nähe genauso wie emotionale, intellektuelle und geistliche Nähe. Und es gilt beruflich, privat, in (Paar-)Beziehungen, Gruppen und Gemeinschaften jeder Art. Dabei ist das Wechselspiel vielschichtig: Nähe vermittelt Zugehörigkeit, Vertrauen, Sympathie, Akzeptanz und Mitgefühl. Distanz steht für den Wunsch nach Selbstbestimmung und Unabhängigkeit, aber auch für das Bedürfnis, sich vor psychischen und physischen Verletzungen zu schützen. Und Erfahrungen von Verletzlichkeit, vergangene Verletzungen, der Wunsch, sich selbst zu schützen und Schüchternheit wiederum erschweren Nähe.
Man könnte vieles ausführen und ergänzen. Das Thema ist komplex. Immer geht es – so scheint mir – darum, dem oder der anderen so nahe zu sein, wie es für sie oder ihn und für einen selbst „stimmt“, wie es gut und angemessen ist. Auf das Gleichgewicht kommt es an, auf das Gespür für sich selbst, für den anderen und den Sinn für die Situation. Das ist ein Lernprozess, und wer anderen nah sein will, geht immer auch ins Risiko – macht sich verletzlich und kann verletzen. Aber wer authentische, echte Nähe er- und gelebt hat, weiß auch von der beglückenden Wirkung. Sie ist ein Geschenk; man kann sich nicht darauf abstützen, aber sich immer wieder neu danach ausstrecken.
Wer all das bedenkt, kann sich natürlich auch erschrecken: Bin ich überhaupt fähig oder nicht einfach überfordert, Menschen in guter Weise nahe zu sein? All das soll aber nicht entmutigen. Im Gegenteil, wir hoffen, dass Sie auf den folgenden Seiten viele ermutigende Impulse finden und mit uns die Einladung von Margaret Karram annehmen, in diesem kommenden Jahr Nähe zu leben.
Vielleicht ist die stärkste Motivation dafür der Blick auf jenen Gott, der von sich sagt: „Ich bin der Ich-bin-da“. Eine nahezu unglaubliche Zusage. Die ganze Bibel ist letztlich eine Beziehungsgeschichte: Er, der geheimnisvolle Gott, will sich als naher Gott zeigen. Er ist ein Gott, der sich dem Menschen zuwendet, ihn anspricht, ihn sieht, sein Schreien und Flehen hört und für ihn sorgt, ihn groß macht. Er schenkt sich, teilt sich mit. Und doch bleibt er geheimnisvoll. Er verzeiht und setzt immer wieder einen neuen Anfang. Wie die Bibel von Gottes Nähe zum Menschen und zur Menschheit spricht, ist faszinierend. Er ist der ganz Andere und doch der ganz Nahe. Auch die Geschichte Gottes mit den Menschen ist eine vom immer neuen Ausloten von Nähe und Distanz. Vom Versuchen und Anfangen.
„Nähe ist Gottes Stil“, unterstrich Papst Franziskus mehrfach. Gott ist nah und kommt nah. So sehr, dass er in Jesus einer von uns wird, wie wir gerade an Weihnachten wieder gefeiert haben: Gott-mit-uns, Immanuel. Und er lädt uns ein, seinen Lebensstil zu teilen … und den Menschen nahe zu sein. Jedem Einzelnen. Allen. Weil sie wie wir zur einen Menschheitsfamilie gehören. Es scheint mir einen immer neuen Versuch wert.

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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Januar/Februar 2025.
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